: Erbschaft unterm Hakenkreuz
Erst Prunkbau der Nazis, dann Ruine der deutschen Teilung: Heute vor 40 Jahren wurde bei Hirschberg die Autobahnbrücke über die Saale zum zweiten Mal dem Verkehr übergeben
von AXEL DOSSMANN
„Keine Vorkommnisse“, telegrafierte am 19. Dezember 1966 ein Grenzoffizier der NVA nach Ostberlin. „Keine Feierlichkeiten“ stand auf dem Telex der bayrischen Grenzpolizisten nach München. Ohne Verkehrsminister, Sekt und Bier wurde vor vierzig Jahren die Saalebrücke auf der Autobahn bei Hirschberg zum zweiten Mal für den Verkehr freigegeben. Bei der Einweihung im Jahr 1936 sollte die 288 Meter lange Natursteinbrücke mit Aussichtsplattform und Hakenkreuzstele noch die „deutschen Gaue“ für alle Ewigkeit symbolisch vereinen: eine Pyramide des Dritten Reiches. Bereits im April 1945 sprengte die Wehrmacht auf ihrem Rückzug das monumentale Bauwerk.
Die Brücke war ziemlich genau in der Flussmitte der Saale zu Fall gekommen, also auf der von den Alliierten vereinbarten Grenze zwischen Ost und West. In dieser Lage war ihr Ruinenwert begründet. Die Seitenansicht dieses Schauplatzes avancierte rasch zum Standard westdeutscher Bildpropaganda im Kalten Krieg. Im fränkischen Hof wurde eine extra Buslinie eingerichtet, damit Zonengrenztouristen die halbzerstörte Brücke als Mahnmal zur Wiedererlangung der deutschen Einheit aus der Nähe betrachten konnten.
Für Reisende auf der Autobahn nach München oder Berlin war derweil eine einstündige Umleitung auf holprigen Landstraßen nötig geworden. Ab 1958 verhandelten deutsche Diplomaten deshalb um die Zuständigkeiten für den Wiederaufbau. Ergebnis war das bis 1989 praktizierte Modell für die Finanzierung und den Bau der Transitautobahnen: Die DDR baut, die Bundesrepublik übernimmt die Kosten. Symptomatisch für den Umgang mit dem Erbe der Reichsautobahnen war, dass es dabei nie um historische oder ästhetische Fragen ging. Für beide Seiten war es selbstverständlich, dass die Hirschberger Brücke „originalgetreu“ wiederhergestellt werden musste. Steinmetze aus der DDR leisteten im Niemandsland noch einmal deutsche Qualitätsarbeit, die den Architekten der Reichsautobahnbrücke, Friedrich Tamms, vermutlich zufriedengestellt hätte.
Damit lag der Fall Hirschberg ganz im Trend der Vergangenheitspolitik. Der Deutsche Werkbund sah in den deutschen Autobahnen „ein unantastbares Gut“. Zusammen mit dem Rat für Formgebung und dem Heimatschutzbund wollte er die deutschen Autobahnlandschaften vor „wesensfremden Elementen wie Reklameschildern“ retten. „Die künstlerische Schönheit der Autobahnen ist das einzige auch im Ausland anerkannte und beneidete Ruhmesblatt, das die Vergangenheit hinterlassen hat.“ So fasste Alwin Seifert, der ehemalige Landschaftsanwalt der Reichsautobahnen, eine weit verbreitete Meinung zusammen.
In den Bundesbau- und Verkehrsministerien wusste man meist aus eigener Erfahrung, dass dieses Fernstraßensystem nur unter den politischen Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur so rasch entstehen konnte. Jetzt wollten diese Männer ungestört ihr Jugendwerk in der Bundesrepublik vollenden. Wie beim Wiederaufbau der Städte wurde eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den architektonischen Traditionen nicht gesucht. Stattdessen sollten Motorisierung und Straßenbau endlich wirklich mehr Freiheit bringen: Staus auf Autobahnen wurden auch als stolze Zeichen der Wohlstands- und Leistungsgesellschaft inszeniert.
Davon blieb das Eisenbahnland DDR keineswegs unbeeindruckt. Seit 1958 sah auch die sozialistische Planwirtschaft den Ausbau des Autobahnnetzes vor. Man wollte vor dem Stau klug sein und rechtzeitig für „reibungslosen Verkehrsfluss“ auf Autobahnen sorgen. Pläne für Bundesautobahnen wurden von ostdeutschen Wissenschaftlern als Aufmarschstraßen für neue Kriege denunziert, die Barackenlager beim Bau der Reichsautobahnen indes als Keimzellen für die antifaschistische Einheit der Arbeiterklasse interpretiert. Unberührt von solcher Propaganda blieb die Baupraxis: Für Straßenbauer auf beiden Seiten der Elbe blieb die „geschwungene“ Reichsautobahn das ästhetische Vorbild. Natursteinbrücken waren in der DDR bis in die 1960er-Jahre hinein beliebt, denn hier konnte man wertvollen Stahl sparen, einen Rückgriff auf „nationale Bautraditionen“ behaupten und sich von der als westlich empfundenen „Bauhaus-Moderne“ abgrenzen. Damit war der originalgetreue Wiederaufbau ökonomisch, politisch und ästhetisch bestens legitimiert.
Seit 1964 rekonstruierten Arbeiter aus der DDR unter schärfster Bewachung die Grenzbrücke bei Hirschberg. Jedes Detail auf der Baustelle barg politischen Sprengstoff. Der schlichte Bauzaun, der bis auf die bayrische Seite reichte, wandelte sich unter den Augen bundesdeutscher Politiker zur zweiten „Berliner Mauer“ und schien die nationale Souveränität in Frage zu stellen. Besänftigt waren die Gemüter erst, als ein bewegliches Podest wieder freie Sicht auf das Land hinter dem Lattenzaun bot. Sogar die „Wochenschau“ berichtete über die „Arbeiter aus der Zone“.
Am Tag der Verkehrsfreigabe vor vierzig Jahren reiste Berlins regierender Bürgermeister Heinrich Albertz „rein privat“ mit seinem Mercedes über die Grenzbrücke. Nach dem Scheitern des dritten Passierscheinabkommens mit der DDR wollte der Sozialdemokrat wenigstens die wieder aufgebaute Grenzbrücke für die „Politik der kleinen Schritte“ nutzen. Tatsächlich wurde das Bauwerk bald zum Symbol des Wandels in den deutschen Beziehungen stilisiert: Das Motiv der rekonstruierten Brücke wählte der Kindler Verlag 1967 als Frontispiz für seinen Bildband „Blick nach drüben: Die DDR heute“, das zur „Reise in ein unbekanntes Land“ einlud.
Die Autobahnfahrt von München nach Berlin dauerte dank der wiedereröffneten Brücke wieder eine Stunde weniger, vorausgesetzt, man kam zügig durch die Grenzkontrollen. „Das westliche Freiheitsgefühl, was wäre es gewesen ohne die Transiterfahrungen?“, fragt der Schriftsteller Friedrich Christian Delius in einem seiner Bücher. Und die Freiheitssehnsucht der Ostdeutschen, was wäre sie gewesen ohne die begrenzte Mobilität auf den DDR-Autobahnen? In den Tagen nach dem 9. November 1989 hüllten zehntausende Zweitakter die Brücke in Abgaswolken.
Als sich der Dunst verzog, wurde über dem Tal wieder sichtbar, was die Nabelschau der beiden Nachkriegsgesellschaften und die Systemkonkurrenz über Jahre hinweg ausgeblendet hatten. Hoch oben an einem Pfeiler der Grenzbrücke, unsichtbar für alle Autofahrer, zeichnete sich ein Hakenkreuz ab. Das aus farblich unterschiedlichen Natursteinen gemauerte Symbol der nationalsozialistischen Bewegung muss seit 1945 über den Köpfen der Grenzposten geschwebt haben. Vermutlich ist es mal übertüncht worden – der Steinmetz aus den sechziger Jahren weiß auch davon nichts.
1990 hat ein Spezialkommando diese irritierende Erinnerung an den politischen Kontext der deutschen Autobahnen rasch kaschiert und ausgemeißelt. Wegen zunehmendem Verkehr wurde die Brücke später auf sechs Spuren erweitert, diesmal mit einem schlichten Betonbauwerk. Zum 3. Oktober dieses Jahres erhielt die Brücke auf Initiative der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ einen neuen Namen: „Brücke der Einheit“.
Wer sich mit dem Auto über die Brücke bewegt, der ahnt nicht, über welchen Grund er dahinfliegt. Kommt man indes als Wanderer durchs Tal der Saale, kann man noch heute das Hakenkreuz im Farbmuster der Granitsteine durchschimmern sehen.
Axel Doßmann ist Historiker, veröffentlichte unter anderem „Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR“ (Klartext Verlag) und war Autor für den Dokumentarfilm „Autobahn Ost“ (Regie und Koautor: Gerd Kroske)