Indische Linien, Leipziger Grund

AUSSTELLUNG Die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zeigt Werke der spät entdeckten Künstlerin Nasreen Mohamedi, einer Protagonistin der indischen Moderne

Reflexartig suchen europäische Betrachter noch heute Einflüsse der lokalen Landschaft, des Pittoresken

VON CLAUDIA WENTE

Die indische Künstlerin Nasreen Mohamedi (1937–1990), die sich fern von Lokalkolorit mit ebenso akribischen wie filigranen Arbeiten auf Papier aus den 60er bis 80er Jahren der internationalen Formensprache ihrer Zeit anschloss und in Richtung Abstraktion und Konstruktivismus bewegte, gehörte zu den Entdeckungen der documenta 12.

Dass ihre Werke nun in der Retrospektive „Notes. Reflections on Indian Modernism“ an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig zu sehen sind, ist vor allem dem emsigen Einsatz zweier Kuratoren zu verdanken, die seit zehn Jahren daran arbeiten, Mohamedis Werke in den globalen modernen Kunstkanon einzureihen: Suman Gropinath, Gründerin und Direktorin von CoLab Art & Architecture, Bangalore, das zum Ziel hat, indische Künstler in den internationalen Kunstdialog einzubringen, und Grant Watson vom Institute of International Visual Arts in London. Die neue Kuratorin der HGB, Rike Frank, die zuvor das Ausstellungsbüro der documenta geleitet hatte, hat die ursprünglich für das Office for Contemporary Art (OCA) in Norwegen konzipierte Ausstellung, die auch schon in Basel zu sehen war, nun nach Leipzig geholt.

Die westliche Welt lernte Mohamedi, die von 1973 bis 1988 an der Maharaja Sayajirao University von Baroda Kunst unterrichtete, erst in diesem Jahrtausend kennen, bezeichnenderweise über die Vermittlungswege London (2000), New York (2005) und schließlich Kassel (2007), gut zehn Jahre nach dem Tod dieser von Kollegen und Freunden als außergewöhnlich beschriebenen Frau, die, nachdem sie Blatt für Blatt mit geometrischen, ebenso exakten wie subtilen Linien gefüllt hatte, ausgerechnet an Parkinson starb.

Wenig ist bekannt über die in Karatschi geborene Künstlerin, die ihre Arbeiten, die den Kuratoren zufolge in einer einzigen Schublade Platz hätten, weder signierte noch datierte oder mit Titeln versah. Minimalistisch ist ihr Werkzeug, das aus Bleistift, Stift und Tinte bestand, reduzierend ihre Formensprache, fast ausschließlich aus feinen Linien und Streifen. Klar und geometrisch präsentiert denn auch die Hängung im Galerieraum der HGB das Werk und folgt den drei Perioden, die bisher in Mohamedis Werk ausgemacht sind: einige wenige Tusche- und Collage-Arbeiten, die noch eine Art Wildheit des abstrakten Expressionismus aufweisen, dann die Reduzierung der Formensprache auf nahezu quadratische, fast textuelle Werke, schließlich die reine Konzentration auf konstruktivistische Linien.

In Nasredi Mohamedis Linien ist viel hineininterpretiert worden, nicht zuletzt, seit in den Retrospektiven auch Fotografien und verschiedene Materialien aus dem Atelier sowie ihr Tagebuch an das Licht der Öffentlichkeit gebracht wurden, die nun auch hier zu sehen sind. Eine Zusammenschau, der sich die Künstlerin zu Lebzeiten strikt verweigert hätte, die ihre Fotografien selbst nicht als eigenständige Werke, sondern nur als Arbeitsmaterial im Prozess ansah. In den Aufnahmen hob sie bestimmte Ausschnitte hervor, die sehr aufschlussreich ihren Blick auf Alltagsgegenstände zeigten; Stühle und Pulte, architektonische Gebilde werden so zu abstrakten schwarzen Konstruktionen, Meeresstrände zu Wellenlinien, Rikschas zu seriellen Formen.

Fast reflexartig suchen europäische Betrachter in Kunst aus den Entwicklungsländern noch heute Einflüsse der lokalen Landschaft, des Pittoresken, Exotischen. Doch dies ist hier völlig fehl am Platz. Nasreen Mohamedi ist eine universalistische Künstlerin, hat neben Bombay in London und Paris studiert und zeitweise in Bahrain und Tokyo gelebt. Lässt man sich auf ihre Linien ein, findet sich darin mehr Zen-Buddhismus als islamische Kunst, auf welche oft Bezug genommen wurde, und darüber hinaus mehr László Moholy-Nagy und Le Corbusier als Minimal und mehr Konstruktivistisches als das Gestisch-Expressive eines abstrakten Expressionismus.

Ihre Linien und Streifen erreichen in den verschiedenen Phasen zweierlei: Die quadratischen Werke zeichnen sich durch Farbgraduationen der Grautöne und sich verjüngende und verbreiternde Linien aus, die ineinandergreifen, sich gegenseitig aufzuwiegeln scheinen und dem Papier eine Textur und Dynamik verleihen, als würde es aus mehreren sich überlappenden Schichten bestehen. Es erhält dadurch eine hautartige Schichtung, eine eigenartige Lebendigkeit.

Zum andern wirken ihre auf minutiöse, akribische Rasterlinien reduzierten Werke beinahe wie computergenerierte dreidimensionale Modelle utopischer Architekturen, bilden Ebenen und Stufen, die einander wiedergeben, wieder aufheben und ins unmögliche Unendliche spiegeln. Darin liegt ein meditatives Element, ähnlich einem Mandala, das als zweidimensionale Darstellung eines dreidimensionalen geistigen Objekts gilt – oder wie der Zen-Buddhismus es ausdrückt: „Alles ist der eine Geist, die eine Wirklichkeit. Alle Vielheit ist Illusion.“

■  Bis 29. Januar, Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig