: Lasterverleih statt Rastafari
Wenn Straßenmusik auf improvisierte Theatermusik und Jeanette Biedermann trifft: Zwei Weihnachtskonzerte spielt das Berliner „Natural Sound System“ „Ohrbooten“ dieses Jahr. Eins davon in Hamburg
Angefangen hat alles 1999 auf den Straßen Kreuzbergs. Texter und Sänger Ben Pavlidis und Gitarrist Matze tun sich zusammen und spielen tagsüber vor Einkaufszentren und Schnellrestaurants und abends in und vor den Bars Lieder zu Matzes „Bum-Gitarre“. Vor allem punkigen Ska von „Sublime“. Da kommen schon mal 100 Mark zusammen und folglich ziehen die zwei den ganzen Sommer durch die Fußgängerzonen und Kneipen der Hauptstadt. Für den morgendlichen Gig im Frühstückscafé wird das Set langsam erweitert, Manu Chaos, Bob Marleys oder Georges Michaels Hits erklingen in den Ohren der gerade aus dem Bett Gekommenen.
Vier weitere Jahre ziehen Ben und Matze mit der Gitarre von Straßengig zu Straßengig. Das Pflaster als perfekte Bühne, um das Handwerk von der Pike auf zu lernen. Wo ist der Kontakt mit dem Publikum direkter, die Reaktion unverfälschter? Und was verschafft mehr „Street Credibility“ als etliche Verfahren wegen Ruhestörung?
Trotz guter Verdienste steht 2003 der nächste Schritt der Straßenmusiker an. Zwei weitere Mitstreiter gesellen sich dazu, man nennt sich „Ohrbooten“ und bildet fortan ein „Natural Sound System“. Onkel, der im Folgenden für die Percussion, die Trommeln und das Cajón zuständig wird, erweitert das stilistische Repertoire. Der hat nämlich vor den „Ohrbooten“ mit „Sex im Stehen“ Jazz gespielt, mit „Berlin Bitch“ Techno gemacht, spielt mit „Toxon“ ordentlichen Metal und hat schon für Pop-Sternchen Jeanette Biedermann auf die Felle gehauen. Auch Tasteninstrumentalist Noodt hat bereits etliche Bands und Projekte auf dem Buckel. Er war musikalischer Leiter am Maxim-Gorki-Theater in Berlin, improvisiert bei „Theatersport Berlin“ und „hidden shakespeare“ Theatermusik und hat neben den „Ohrbooten“ mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet – unter anderem mit den „Positunes“, mit Flowin’ Immo und Arto Lindsay.
Zusammen gehen die vier ins Studio und bannen ihre offensichtlich von einer Reihe von Stilen beeinflusste Musik 2005 beim „Toten Hosen“-Label „Jochens Kleine Plattenfirma“ auf Vinyl. „Spieltrieb“ heißt die 13 Stücke umfassende Platte und genau danach klingt sie auch, ob beim Philosophieren übers Pleitesein, beim Reimen über „Stadtkinder“ und beim Planen des Ausbruchs aus dem Alltag. Die vier selbst nennen das Ganze „Gyp Hop“: Eine gitarrenlastige Mischung aus Pop, Punk, Ska, HipHop und Jazz – mit einer ordentlichen Portion Reggae und Dancehall und Slang von den Straßen der Hauptstadt. Denn: „Berliner Schnauze bounct einfach.“ Und „Lasterverleih“ klingt ja genau genommen auch nicht schlechter als „Rastafari“, wenn es mit ordentlichem Hall und Echo gesungen wird. Und macht unbestreitbar manchmal einfach mehr Sinn.
ROBERT MATTHIES