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Archiv-Artikel

Im Bäuchlein blitzeblank

Wenn die digitale Boheme in bodennahen Kaffeeorten herumhockt, ist es höchste Zeit fürs Telecafé. Man kann sich dem Fernsehturm nämlich höflicher nähern, als ihm mit doofen Weihnachtsgeschenkprodukten übel mitzuspielen

Zu Hause war’s mir letztlich zu privat und ein bisschen einsam. Die eigenen Gedanken kannte ich auch schon. Überhaupt widerte mich meine Unordnung an. So war ich eigentlich schon seit Wochen auf der Suche nach einem angenehmen Platz zum Arbeiten. Die Kreuzberger Umsonstzeitung Berlinx hatte von Menschen berichtet, denen es ähnlich wie mir zu gehen schien. Sie heißen „digitale Boheme“ und sitzen zwanglos an ihren Laptops im Café St. Oberholz am Rosenthaler Platz, wo sie Schnurren über ihresgleichen schreiben. Ich hatte aber keine Lust, mit fünfzehn anderen Typen wie in einem Großraumbüro zu sitzen. Der Fernsehturm schien eine gute Alternative. Ich war da lange nicht gewesen. Es ist ja wie mit vielen Dingen: Als Bewohner ignoriert man sie; als Besucher ist man ganz begeistert. 4.000 tagtägliche Gäste zählt der Fernsehturm.

Um halb fünf fiel auf die oberen Stockwerke eines Hauses nahebei noch Sonne. Komischerweise war es ganz oben dann dunkler als unten. Vermutlich sind die Außenscheiben getönt oder noch von den Klebstoffresten wegen Fußball verschmiert.

Im Volksmund wird der Turm „St. Walter“ genannt. Walter Ulbricht (SED) hatte nämlich die Idee. Als der DDR-Vorsitzende am 22. 9. 1964 vor einem Modell der Stadt stand, hatte er gewohnt unnachahmlich die Standortentscheidung verkündet: „Nu, Genossen, da sieht man’s ganz genau: Da gehört er hin.“ 1969 war der Turm dann fertig. Mit 368 Metern ist er das höchste Bauwerk Deutschlands. Sein Westpendant ist weniger als halb so groß und auch nicht Mitglied in der Vereinigung großer Türme. Die Vereinigung großer Türme ist eine Art UNO der Dinge, eine „internationale Vereinigung von Bauwerken, die sich zusammengeschlossen haben, um weltweite Aufmerksamkeit zu erreichen“. Deren Vorsitz hat zurzeit, glaube ich, ein großer Turm aus Schanghai, der fast 450 Meter hoch ist. Dies alles ging mir durch den Kopf, während ich darauf wartete, ins Telecafé gelassen zu werden. Der Mann fragte: „Wie viele sind Sie?“, und ich antwortete: „Ich bin allein.“ – „Dann nehmen Sie die zwei anderen auch mit. Sie werden sich schon vertragen.“

Die zwei anderen waren ein zurückhaltendes, höfliches Touristenehepaar aus dem Erzgebirge. Wir waren traurig darüber, dass sich das Café infolge des Turbokapitalismus doppelt so schnell wie vor 89 um sich selbst dreht. Aber eigentlich sagten wir kaum etwas und guckten wie Kinder auf die Lichter der Stadt dort unten. Ich fand es unpassend, meinen Laptop auszupacken und notierte stattdessen auf einem kleinen Stück Papier Gedanken über das romantische Halbdunkel, in dem wir saßen, und die meist bewundernden Sätze der Frauen: „Wie schön sieht doch der Verkehr aus!“, „Wie schön ist doch die breite Straßenführung dort unten! Mit den schönen Laternen!“

Ich fand komisch, dass man nur einen einzigen öffentlichen Weihnachtsbaum sah. Die Autos sind auch komisch: Wer kommt, leuchtet weiß, wer geht, leuchtet rot. Schade nur, dass die Lampe an unserem Tisch an war. Ich fragte das Paar nicht, ob ich das Licht wegmachen dürfe, weil ich vermutete, sie wollten das so. Kurz bevor ich ging, fragten sie mich, ob ich das Licht noch brauche.

Auf dem Rückweg bedankten sich Besucher bei den Turmmitarbeitern für die schöne Aussicht. Zu Hause fand ich im Internet das Fernsehturmlied der Jungen Pioniere: „Der Fernsehturm ist groß und schlank, groß und schlank, groß und schlank und hat ein Bäuchlein blitzeblank, Bäuchlein blitzeblank, Bäuchlein blitzeblank. Da ist kein Magen drin, nee, nee, sondern ein Fernsehturmcafé. Groß und schlank, blitzeblank, Fernsehturmcafé.“

DETLEF KUHLBRODT