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Archiv-Artikel

Vor dem Reißwolf gerettet

NSDAP-AKTEN Das Berlin Document Center war eine wichtige Quelle für die juristische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Ausstellung „Datenreich im Verborgenen“ in Steglitz öffnet ein Fenster in das Archiv

Insgesamt 8,5 Kilomenter beträgt die Strecke von Akten in den Bunkeranlagen, wenn man sie aneinanderreiht

VON CHRISTINA STEENKEN

Es war ein Fund von großer Brisanz: Hätte Hans Huber, der einstige Besitzer der Papiermühle Wirth in München, weniger scharfsinnig gehandelt, als er es tat, wären 50 Tonnen Nazi-Akten im April 1945 im Papierschredder gelandet. Selbst war Huber kein Parteimitglied und fürchtete somit nicht, seinen eigenen Namen in den Akten wiederzufinden; er sabotierte die Vernichtung der Dokumente. Bei den Tonnen an Papier, die in seiner Papierfabrik lagerten, handelte es sich um nichts Geringeres als die rund 10,7 Millionen Pappkarten mit den Namen der NSDAP-Mitglieder. Die NSDAP-Kartei zählt seither zu einem der bedeutendsten Archive Deutschlands.

Im Mai 1945 machte sich Hans Huber auf den Weg zu den US-Offizieren in München, die die Stadt eingenommen haben. Er berichtet ihnen von den Lkw-Ladungen voll von Karteien der Naziparteiakte, die kurz vor Kriegsende von der SS in seine Papiermühle zur Vernichtung geliefert wurden. Zum Beweis bringt er einige der Pappkarten mit. Doch die Amerikaner begreifen nicht, um was für einen Schatz an Akten es sich handelt, den Huber ihnen anbietet; sie lassen ihn abblitzen. Erst im Oktober 1945, als Fachleute nach Deutschland kommen, um die Nürnberger Prozesse vorzubereiten, suchen Archivberater der US-Militärregierung die Papiermühle Wirth auf. Sie schaffen das Material nach Berlin in den Wasserkäfersteig 1. Dort entsteht das Berlin Document Center (BDC), das die Parteikartei bis 1994 verwaltet, ehe es in den Bestand des Bundesarchivs übergeht.

Zum ersten Mal ist dieser Institution nun eine Ausstellung in Berlin gewidmet. Das Kulturamt des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf zeigt sie in der Schwartzschen Villa, erarbeitet haben sie Sabine Weißler und Wolfgang Schäche. Detailreich wird die politische Brisanz, die von den Akten ausgeht, vermittelt. Durch Poster, Fotos, Bücher und Berichte von Zeitzeugen kann man die Geschichte und Umstände des Berlin Document Center und der NSDAP-Mitgliederkartei präzise nachvollziehen. Viele Zeitungsartikel beschäftigen sich mit dem Skandal in den 70er und 80er Jahren, als in der Institution schätzungsweise 80.000 Blatt von Mitarbeitern gestohlen und auf Militaria-Märkten angeboten wurden; dieser Vorfall war letztendlich auch Grund dafür, dass der Bestand in deutsche Hände kam. Zwei Stunden Zeit sollte man sich für die Ausstellung mindestens nehmen, denn es gibt viel zu entdecken.

Görings Lauschangriff

Schon die Räume, in denen das BDC untergebracht war, stellen ein Stück Geschichte dar: Es waren die Kellerräume des ehemaligen Telefonverstärkeramtes der Reichspost, die tatsächlich als Abhörzentrale der Nazis fungiert hatten. In einem riesigen Bunkerkomplex waren die Abhöranlagen kriegssicher untergebracht, Hermann Göring konnte hier jedes Telefonat zwischen Berlin und dem Westen abhören. Die Räume wurden von den amerikanischen Administratoren als zentraler Aufbewahrungsort für beschlagnahmte Akten auserwählt – darunter auch die NSDAP-Parteiakte.

Insgesamt 8,5 Kilometer beträgt die Strecke von Akten, wenn man sie aneinanderreiht. Deutsche Zivilangestellte werteten die Pappkarten aus und sortierten sie alphabetisch, um sie für die Verfolgung von Tätern im Nationalsozialismus und zur Entnazifizierung zu nutzen. Auch für die Nürnberger Prozesse wurden Akten aus dem Berlin Document Center zur Recherche herangezogen. Bewerber um wichtige Posten in der Bundesrepublik mussten einen Fragebogen ausfüllen, der von Mitarbeitern geprüft wurde, ob sie in ihrer Vergangenheit mit der NSDAP in Kontakt waren. Im Berlin Document Center konnte dann leicht nach dem Namen des Bewerbers gesucht werden.

Gerüchten entgegentreten

Um Gerüchte von kollektiven Parteibeitritten ohne eigenes Wissen widerlegen zu können, erschien bereits 1947 eine Broschüre unter dem Namen „Who was a Nazi?“, herausgegeben vom damaligen US-Militärgouverneur, Lucius D. Clay. Darin wird deutlich, dass man unwissentlich nicht Parteimitglied der NSDAP werden konnte, da immer eine Unterschrift des Antragsstellers gegeben sein musste. Die Broschüre zeigte Beispiele, in denen Anträge unbearbeitet zurückgeschickt wurden, da die eigenhändige Unterschrift fehlte.

Heute können die Akten nur von Personen eingesehen werden, die vorher einen Antrag beim Bundesarchiv eingereicht haben und einen Grund für ihre Recherche nennen. Generell regelt das Bundesarchivgesetz von 1988, dass lediglich die Unterlagen derer Personen eingesehen dürfen, die bereits seit dreißig Jahren verstorben sind. Verkürzungen der Schutzfrist sind nur unter bestimmten Bedingungen möglich, beispielsweise zu wissenschaftlichen Zwecken. Nicht zuletzt wegen dieser Zugangsschwellen ist die Ausstellung „Datenreich im Verborgenen“ interessant, lässt sie doch die Arbeit des Bundesarchivs und viele sich anschließende Problematiken transparent werden. Und sicher ist, ohne die Millionen von Karteikarten wäre die Aufarbeitung der NS-Zeit schleppender vorangegangen, als es eh schon der Fall war.

■ „Datenreich im Verborgenen“, Schwartzsche Villa, bis 20. Februar, Di–Fr + So 10–18 Uhr, Sa 14–18 Uhr