piwik no script img

Archiv-Artikel

Im Griff der Extremisten

ALLTAG Ähnlich wie anfangs in Syrien wurden die Isis-Dschihadisten auch in Mossul von Teilen der Bevölkerung gefeiert. Die Freude dürfte nicht anhalten. Wie die Isis-Herrschaft aussieht, sieht man in Syrien: Gegner werden ermordet, Schariagerichte eingesetzt

AUS ISTANBUL INGA ROGG

Es sind Szenen, wie man sie im vergangenen Jahr in Syrien sah: Menschen feiern auf den Straßen den Einmarsch der Organisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis). Jubelnd fahren sie in Autokorsos durch die Straßen der nordirakischen Millionenstadt Mossul und verteilen Süßigkeiten. Sehen kann man das in Videos, die im Internet zirkulieren. Dabei wissen auch die Bürger von Mossul, was auf sie zukommen dürfte.

Die Isis-Kämpfer selbst machen aus ihrer Brutalität kein Geheimnis. Über Twitter haben sie in den letzten Tagen Fotos von angeblichen Massenhinrichtungen verbreitet. Eine dieser Aufnahmen zeigt Dutzende von vornehmlich jungen Männern in einem Graben, vor ihnen sind bärtige Kämpfer mit gezogenen Gewehren aufgereiht. Sie hätten 1.700 schiitische Soldaten umgebracht, behaupten die Männer. Ein Militärsprecher sprach gegenüber AP hingegen von rund 170 Toten. Da ist es schwer, Fakten von Propaganda zu trennen.

„Schlimm“ nennt ein Techniker in Mossul die Machtübernahme des Isis. „Aber viele sind glücklich, weil die Armee und Polizei verschwunden sind“, sagt er am Telefon. „Sie haben die Leute an den Checkpoints gedemütigt und attackiert. Das ist jetzt vorbei.“ Die Mudschaheddin, wie er sie nennt, seien sogar ausgesprochen freundlich. Andere Gesprächspartner äußern sich ähnlich. Das sagt natürlich mehr über die schiitisch dominierten Sicherheitskräfte der Regierung aus als über die Gotteskrieger.

Kaum hatten die Isis-Kämpfer Mossul und die umliegenden Gebiete eingenommen, erließen sie ein Edikt, in dem sie erklärten, wie die Regierung in ihrem „Staat“ aussehen soll: Drogen, Alkohol und Zigaretten seien verboten, heißt es in dem 16-Punkte-Katalog. Das fünfmalige Gebet sei Pflicht, und alle Gräber und Schreine Andersgläubiger würden zerstört – außer Sunniten leben in Mossul und der Region auch viele Christen und Angehörige der Minderheit der Jesiden sowie Schiiten. Frauen sollen sich natürlich verschleiern und nur das Haus verlassen, wenn es unbedingt nötig ist. Dieben wird mit dem Abhacken der Hände gedroht.

Gleichzeitig ernannte Isis einen neuen Bürgermeister und begann damit, Freiwillige für eine Quasipolizei zu rekrutieren. Sie machte sich aber auch daran, die Herzen und Köpfe der Einheimischen zu gewinnen: So verteilten sie einen Teil der 425 Millionen Dollar, die ihr in einer Bank in die Hände fielen, unter das Volk. Zudem riss sie die verhassten Checkpoints und Barrikaden ein. Dass die Isis in der Lage ist, eine Verwaltung aufzubauen, hat sie in Syrien gezeigt, in Rakka und den Gebieten in der Provinz Deir as-Sur.

Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerorganisation hat sich die Isis dort bemüht, Stammesführer und andere Notablen für sich zu gewinnen. Das erbarmungslose Vorgehen al-Qaidas im Irak, aus der die Isis 2013 hervorging, hatte vor acht Jahren dazu geführt, dass sich die Sunniten gegen sie erhoben.

Daraus hat Abu Bakr al-Baghdadi, der Chef der Isis, offenbar seine Lehren gezogen. Allerdings müssen beispielsweise Sunniten, die im Dienst der Regierung in Bagdad stehen, ihm ihre Gefolgschaft schwören, um nicht umgebracht zu werden.

In Syrien haben die Extremisten nicht nur Schariagerichte installiert, sondern auch dafür gesorgt, dass die Müllabfuhr und Stromversorgung sowie ein Staudamm funktionieren. Sie haben Brücken und Straßen repariert, betreiben Krankenhäuser, Buslinien, leisten Hilfe für die Armen. Und es gibt eine Post.

Durch die Schutzgelderpressungen war Mossul schon früher ihre Melkkuh. Mit der Einnahme der Stadt ist ihnen nun das Kronjuwel der Region – zwischen dem Osten Syriens, dem Irak und der Türkei – in die Hände gefallen. Historisch, wirtschaftlich und politisch ist Mossul weitaus wichtiger als Rakka. Sollte es ihnen gelingen, ihre Herrschaft zu festigen, hätte das regionalpolitisch, aber auch international noch größere Bedeutung als die Eroberung von Kabul in den neunziger Jahren.

Dass die Freude der Einheimischen über die Isis-Herrschaft lange andauert, ist unwahrscheinlich. In Syrien haben sie gezeigt, wie sie mit Opponenten umspringen. Dort haben sie vor allem von dem Chaos und der Kriminalität in den Reihen der Rebellen profitiert. Im Irak liegt es jetzt an der schiitischen Regierung, die Sunniten von Mossul für sich zu gewinnen.