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Archiv-Artikel

Köhler: Es gibt zu viel Angst vor Zumutungen

Er stoppt nicht nur Gesetze – jetzt liest der Bundespräsident der Kanzlerin und ihrer Koalition auch noch die Leviten

BERLIN taz ■ Wenn die Kritiker Horst Köhlers in den vergangenen Tagen geglaubt haben sollten, ihre scharfen Worte könnten den Bundespräsidenten einschüchtern, ihm gar Zurückhaltung auferlegen, dann haben sie sich getäuscht. Köhler will seine Rolle als politischer Präsident weiter spielen. Im Zweifelsfall kann das heißen, die Regierung auch einmal vor sich herzutreiben und an ihre eigenen Reformversprechen zu erinnern. Konflikte nimmt der Bundespräsident dabei bewusst in Kauf.

Dieses Selbstverständnis seines Amtes hat Köhler jetzt in einem Stern-Interview lang und breit erläutert. Als Schwerpunkt für die zweite Hälfte seiner Amtszeit nannte er, zusätzliche Reformbereitschaft zu fordern. Deutschland stehe erst am Anfang des Reformprozesses. „Die Suche nach zielorientierten Lösungen kann nicht gehen ohne Streit“, sagte er. „Der Bundespräsident muss nicht immer etwas Neues sagen, aber er muss daran erinnern, wo Defizite bestehen, zum Beispiel bei der Bildung. Ich will diesem Volk auf seinem schwierigen und weiten Reformweg helfen, dafür habe ich mich in die Pflichten nehmen lassen.“

Zu diesen Pflichten rechnet Köhler ganz offensichtlich auch, der Regierung die Leviten zu lesen. Der großen Koalition attestiert er „zu viel Angst vor Zumutungen“. Nach Ansicht des Bundespräsidenten müsse die Politik ganz allgemein „wieder das Zuhören lernen“. Diese Eigenschaft gehe unter „bei den vielen verwirrenden taktischen Spielchen“. Der Ökonom und frühere Chef des Sparkassenverbandes sieht sich selbst dabei offenbar in einer privilegierten Rolle. „Ich komme nicht aus dem politischen Establishment“, sagt er. „Das ist richtig, und das ist auch eine Schwäche. Aber es macht auch unabhängig.“ Nicht nur diese politischen Äußerungen sind bemerkenswert, sondern auch der Zeitpunkt, an dem der Bundespräsident sie kundtat. Sie erschienen just an diesem Mittwoch, an dem er sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einer ihrer regelmäßig stattfindenden vertraulichen Unterredungen traf. Merkels Regierungssprecher wollte diese Stilfrage wie auch die ungeduldigen Worte an die Adresse der großen Koalition nicht weiter kommentieren. Ulrich Wilhelm wollte nicht einmal die Einschätzung teilen, dass es sich bei dem Köhler-Interview um eine grundsätzliche Kritik an der Regierung handele. Die Kanzlerin habe selbst den Anspruch, in ihren Reformanstrengungen nicht nachzulassen. Das Verhältnis seiner Chefin zum Bundespräsidenten bezeichnete Wilhelm als „gut, eng und vertrauensvoll“.

Zu Angela Merkel hat sich Köhler in dem Interview übrigens auch geäußert. Seine Beziehung zu ihr nannte er „gut und fair“. Auf die Frage angesprochen, was die Kanzlerin wolle, antwortete der Bundespräsident mit nur einem einzigen Satz: „Sie sieht die Kernprobleme des Landes.“ Stattdessen verteilte Köhler lieber Lob für einen abgetretenen sozialdemokratischen Parteivorsitzenden. „Matthias Platzeck setzt sich für den vorsorgenden Sozialstaat ein, im Unterschied zum nachsorgenden Sozialstaat. Diese Ansatz weist in die richtige Richtung.“ Na denn.

JENS KÖNIG