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Archiv-Artikel

Der Hightech-Derwisch tobt

BASSMUSIK Paradox ist der neue Mix „Fabric 55“ des britischen Dubstep-Produzenten Sam Shackleton: vital und bedrohlich zugleich

Aus diesen Elementen schafft er eine Clubmusik, die zu gleichen Teilen „Weltmusik“ wie Industrielärm-Romantik atmet

Eigentlich ist er rein aus der Not an die elektronische Musik geraten. Wie der britische Produzent Sam Shackleton berichtet, hatte er für derartige Aufgaben in der Musik früher mal einen Partner, der sich aber irgendwann zum Islam bekannte und dann dem Vereinigten Königreich den Rücken zuwandte. Daraufhin entschied sich der in Programmierfragen unerfahrene Shackleton zum Kauf eines Computers und begann unter seinem Familiennamen Platten zu veröffentlichen.

Shackleton ist heute einer der großen Namen im Dubstep, jenem Clubmusik-Genre, das zu Beginn des Jahrtausends in London entstand und dessen gedrosselte, verstolperte Rhythmen und tiefe Bässe an eine Kombination aus urgemütlichem Dub Reggae und überdreht-hektischem Drum and Bass denken lassen. In der prestigeträchtigen Mix-Reihe des Labels Fabric, das vom gleichnamigen Londoner Club betrieben wird, ist Shackleton daher bestens aufgehoben.

Ironischerweise wollte die klare Genrebegrenzung bei ihm nie so recht passen. Auch scheint seine Musik nicht immer für die Tanzfläche bestimmt. Rhythmisch treibend ist sie gleichwohl. Für Dubstep gilt derzeit ohnehin, dass sich seine Protagonisten in verschiedene Richtungen orientieren. Da gibt es Musiker wie Paul Rose alias Scuba, der verstärkt auf die geradlinigeren Rhythmen von House und Techno setzt, oder Versuche in Richtung Pop, wie sie von Darkstar unternommen werden.

Arabische Patterns

Bei Shackleton liegen die Dinge komplizierter. Da gibt es einerseits die Dubstep-typische Düsterkeit, die bedrohlich-grau eingefärbten Halleffekte, die wenig von der bekifften Wärme des frühen Dub Reggae haben, andererseits gibt es in seiner Musik eine Vielzahl arabischer Einflüsse, allen voran die komplexen Trommelpatterns, die sich deutlich von den sonst weit schrofferen Beats seiner Mitstreiter absetzen. Aus diesen Elementen schafft er eine Clubmusik, die zu gleichen Teilen „Weltmusik“ wie Industrielärm-Romantik atmet und in dieser Kombination allenfalls in Musikern wie dem wegen politischer Ausfälle – Ablehnung des Staates Israel, einseitige Parteinahme für die Palästinenser – auch nach seinem Tod noch stark kontroversen Bryn Jones alias Muslimgauze ein stilistisches Vorbild hat.

Er habe sich gewundert und gefreut, als er zum ersten Mal um ein DJ-Set im Fabric gebeten wurde, so Shackleton. Dass der Londoner Club Interesse an seiner Musik zeigen könnte, hätte er nie gedacht. Mittlerweile legt er dort regelmäßig auf. Der heute in Berlin lebende, eher schüchterne Musiker wählte für seinen aktuellen Fabric-Mix ausschließlich eigenes Material aus, darunter einige veröffentlichte Titel, andere Tracks waren noch nie zuvor erschienen. Keines der Stücke erklingt in bekannter Form.

Mit diesem „egozentrischen“ Ansatz steht Shackleton keinesfalls allein da. Der House-Produzent Riccardo Villalobos zum Beispiel hatte in seinem Fabric-Mix ebenfalls nur sich selbst gespielt. Shackleton hat im Grunde ein Soloalbum im Mix-Format eingespielt, und auch wenn die vorliegende Fassung im Studio entstand, war ein Liveset im Londoner Club die Grundlage dafür. Man darf bei „Fabric 55“ nicht den Fehler machen zu glauben, es handle sich bei dieser Platte ja „nur“ um einen Mix. Die nahtlosen Übergänge geben Shackletons rastlosen Rhythmen vielmehr einen idealen Rahmen, um einen Strudel zu erzeugen, der an Hightech-Derwische denken lassen mag. Aus dieser Spannung entsteht ein Sog, der durch seine subtilen Trommelschichtungen so gar nichts Aufdringliches hat.

Sound der Krise

Paradox ist diese Musik, sie kann im selben Track affirmativ-vital und bedrohlich-düster zugleich sein, gelöste Ausgelassenheit entsteht dadurch wohl kaum. So kommt es nicht ganz von ungefähr, dass Dubstep immer wieder zum Sound der Krise beschworen wurde. Dennoch verströmt diese Musik einen Geist der Freiheit, der auch ohne klare Botschaften auskommt. Dies ist Clubmusik, die keinen Club braucht, „Kopfmusik“, die gleichermaßen für den Körper gemacht ist. TIM CASPAR BOEHME

■ Shackleton: „Fabric 55“ (Fabric)