: Der Ruch von Verwegenheit
KUNSTBLUTRAUSCH Der Regisseur Herschell Gordon Lewis begründete mit Filmen wie „Blood Feast“ das Splatter-Genre. Zu seinem 85. Geburtstag schenken ihm die Tilsiter Lichtspiele eine Retrospektive
VON THOMAS GROH
Auf den berüchtigsten Film muss man zwar verzichten: Ohne „Blood Feast“ ist im Grunde genommen keine Reihe zum Schaffen des US-amerikanischen Exploitationfilmers Herschell Gordon Lewis komplett. 1963 hob der Regisseur mit diesem Streifen rund um ein blutiges Ritual zur Beschwörung der ägyptischen Göttin Ishtar den Splatterfilm aus der Taufe und setzte damit eine Bewegung im Kino in Gang, die von den zwielichtigen Spielstätten am Rande des Betriebs und höchst marginalisierten Produktionsbedingungen über den Umweg des Autoren-Splatterfilms mittlerweile auch künstlerisch anerkannter Regisseure wie George A. Romero und David Cronenberg mitten hinein ins Herz der heutigen Filmindustrie führt.
Schon deshalb wäre „Blood Feast“ als filmhistorische Initialzündung unbedingt zeigenswert, allein, der deutsche Staat gibt hier den Spielverderber: 2004, als der Splatterfilm im Kino paradoxerweise fröhliche Urständ feierte, zog das Amtsgericht Karlsruhe den damals 40 Jahre alten Film per Beschlagnahmung aus dem Verkehr. Vor dem insbesondere aus heutiger Perspektive ulkigen Schabernack, der überaus offensichtlich mit eingedicktem Fruchtsirup und abgetrennten Schaufensterpuppen-Beinen hantiert, muss ein erwachsenes Publikum offenbar noch immer vom Staatsanwalt beschützt werden.
Bleiben noch über 30 weitere Lewis-Filme, von denen die Tilsiter Lichtspiele in Friedrichshain bereits seit Anfang Juni und noch bis in den Juli eine erkleckliche Auswahl zeigen. Damit präsentiert das Haus einen Filmkosmos, in dem randständige Ästhetik und die Lust am Bruch filmischer und moralischer Tabus tatsächlich noch sehr wenig von soziopolitischen Diskursen belegt waren, sondern vor allem um ihrer selbst – bzw. ihrer Vermarktbarkeit – willen zelebriert wurden.
Dass Lewis naive Billig- und Schundfilme ohne weiterreichende Ambitionen gedreht hat – zuerst aufreizende Nudie-Cuties, später Splatter- und Juvenile-Delinquency-Filme –, würde der mittlerweile längst im Marketing-Bereich tätige Regisseur niemals anzweifeln. Und doch liegt eben in dieser angenehmen, spielfreudigen Schundigkeit der ungemeine Reiz und Charme dieser Filme, die schon in ihren Titeln – „She-Devils on Wheels“, „The Gore-Gore Girls“, „Two Thousand Maniacs!“ oder „Color Me Blood-Red“ – funkelnde Sensationen versprechen, die das Budget kaum adäquat zu liefern vermag.
Auch deshalb ist das Marketing essenzieller Bestandteil des Gesamtpakets: Für „Blood Feast“ etwa ließ Lewis im Radio verkünden, dass Herzschwache die Vorführung meiden sollten, für Notfälle sei geschultes medizinisches Personal anwesend. Andere Filme hängten sich offensichtlich an reißerische Überschriften aus dem Boulevard und schlachteten Reizthemen wie weibliche Motorradgangs oder LSD-Abusus an der Kinokasse aus.
Gerade im Kontext des heutigen Große-Themen-Kinos, das selbst Strampelhosen-Superheldenfilme nur unter der Auflage zulässt, als zeitdiagnostisches Barometer zu fungieren, wirken Lewis’ Filme wie ein Antidot gegen einen längst steril gewordenen Betrieb, der sich in seiner eigenen Verbürgerlichung gemütlich eingerichtet hat. Sie erinnern, als filmisches Pendant zu grellen, billigen, vergilbten Comicheften, an den Rock ’n’ Roll und den Ruch von Verwegenheit, den das Kino abseits der großen Lichtspielhäuser und des Starbetriebs noch bis weit in die 70er Jahre kennzeichnete. Dass sie heute ihren Platz nicht in den auf Filmgeschichte spezialisierten Kinos dieser Stadt, sondern, vom genossenschaftlichen Verleih Drop-Out Cinema mit viel Idealismus vertrieben, in den Tilsiter Lichtspielen finden, die mit ihrem ostalgischen Gilb selbst schon wie aus der Zeit gefallen wirken und sich mit ungebrochen subkultureller Attitüde jenseits des Betriebs positionieren, ist nur adäquat. Und den vermissten „Blood Feast“ findet man zu Ergänzung auf YouTube. Eat this, Amtsgericht!
■ „HG Lewis zum 85. Geburtstag“: Tilsiter Lichtspiele, bis 2. Juli