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Archiv-Artikel

Wettbewerb der Qualen

Diese Figuren übertreiben es aber wirklich mit dem Leiden: Chuck Palahniuk schickt Möchtegernschriftsteller in eine Künstlerkolonie – die machen daraus eine Hölle

VON KATHARINA GRANZIN

Ist ein persönliches Bekenntnis vorab erlaubt? Ausnahmsweise? Danke. – Ich gehöre ja zu den Gewissenhaften, die jedes zu besprechende Buch kreuzbrav zu Ende lesen. Aber diesmal habe ich versagt. Es ging nicht mehr. Und dabei ist Chuck Palahniuks „Die Kolonie“ im Prinzip ein gutes Buch. Wenngleich dieser abgegriffene Ausdruck nicht im selben gemütlichkeitsheischenden Sinne gebraucht werden kann wie etwa in dem Satz „Abends setzte er sich mit einem Glas Wein und einem guten Buch vor den Kamin“. Jegliche Nahrungsaufnahme während der Lektüre ist ohnehin grundsätzlich unmöglich oder verweist auf eine eher bedenkliche mentale Grundverfassung des Lesers. Doch jedenfalls kann Mr. Palahniuk schreiben. Und er sorgt zuverlässig dafür, dass einem der Würgereiz immer konstant in der Kehle sitzt.

Es klingt wie eine interessante literarische Versuchsanordnung: Siebzehn Menschen, jeder von ihnen beladen mit einer eigenen grausigen Geschichte, werden von einem Fremden eingeladen, sich drei Monate in Klausur zu begeben, um in dieser Zeit schreibend ein Meisterwerk zu erschaffen. Doch die vermeintliche Künstlerkolonie entpuppt sich als verlassenes Theatergebäude, das hermetisch abgeriegelt wird, sobald die Möchtegernschriftsteller es bezogen haben. Anfänglich ruft das noch Empörung hervor. Doch nur allzu bald beginnen die Gefangenen, sich mit ihrem Eingeschlossensein anzufreunden, um diesen Zustand schließlich hartnäckig zu verteidigen. Als ihr vermeintlicher Kerkermeister stirbt, denkt niemand daran, den Schlüssel zu benutzen, den er hinterlässt. Statt dessen wetteifern die Insassen darin, ihr Gefängnis immer unbewohnbarer zu machen: vernichten die Essensvorräte, zerstören die Heizungsanlage, verstopfen die Abflussrohre.

Unausgesprochen und einvernehmlich haben sie die Situation umgedeutet in eine grandiose Möglichkeit, berühmt zu werden: das Drama ihres Eingeschlossenseins als Filmstoff für großes Hollywoodkino, für das nun jeder ein bisschen mehr leiden will als die anderen. Nur deswegen beschließen zwei, der Perverse und die Hippiefrau, das romantische Liebespaar zu geben. Nur deshalb hacken alle sich Finger und Zehen ab, um die Katze damit zu füttern. Nur deshalb schneiden sie, als sie sich anschicken, eine verstorbene Schicksalsgenossin zu schlachten, der Toten zuerst das Fleischstück mit dem dekorativen Tattoo aus dem Körper.

All das aber ist nur die Rahmenhandlung, der Überbau für einzelne Short Stories, die Lebensgeschichten der Eingeschlossenen. Da gibt es unter anderem: Das Paar, das, um mit einem Porno Geld zu verdienen, sich so lange beim Sex filmt, bis die Beziehung für beide unerträglich geworden ist. Den kleinen Perversen, dem beim Sex mit dem Swimmingpoolabfluss vom selbigen der Darm aus dem Leib gezogen wird. Die Polizistin, die die anatomisch echten Polizeipuppen, mit deren Hilfe Kinder in Missbrauchsfällen aussagen, davor retten will, von den Cops permanent vergewaltigt zu werden.

Drastische Albtraumszenarien. Palahniuk geht deutlich über die Grenzen dessen, was man sich jemals vorzustellen gewagt hätte. Er zeigt eine Welt, in der statt Menschen lediglich menschenähnliche Wesen existieren, die, um sich lebendig zu fühlen, sich den stärksten, möglichst gewalttätigen Reizen aussetzen müssen, und denen die eigenen Handlungen und Gefühle nur dann etwas gelten, wenn sie vor Publikum – in Film, Fernsehen, Literatur – zur Schau gestellt werden können.

Das grundlegende Problem dieses Buches besteht darin, dass es selbst mit so starken Reizen arbeitet, dass es von echten Menschen, soll heißen Personen, die noch nicht zu lediglich menschenähnlichen Wesen mutiert sind, kaum konsumiert werden kann. Das konstante Erzählen jenseits der Ekelschwelle bewirkt schnell eine unerträgliche Reizüberflutung und ist über 480 Seiten hinweg eine echte Zumutung. So ist dieser an sich fesselnd geschriebene, wenngleich etwas zu stringent durchkomponierte Brocken Prosa vielleicht vergleichbar mit jemandem, der an sich ein eloquenter Gesprächspartner sein mag, es aber im persönlichen Dialog für nötig hält, permanent zu schreien – in der Hoffnung, man könne seinen Argumenten dann besser folgen. Da die Gehörlosen ihn aber ohnehin nicht verstehen können, steigert er seine Lautstärke noch, derweil die Hörenden lieber das Weite suchen.

Und wenn es stimmt? Wenn die Welt eine sadomasochistische Hölle ist und der Mensch nur in ihr, um zu leiden und anderen Leid zuzufügen, und die Literatur auch nur ein aufgeblasenes Medium unter anderen, das den Menschen von der wahren Empfindung trennt? Wozu dann überhaupt Bücher schreiben? Ich werde dieses hier fürs Erste behalten und irgendwann zu Ende lesen, um zu sehen, ob es auf diese Frage doch noch eine Antwort bereit hält.

Chuck Palahniuk: „Die Kolonie“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Manhattan, München 2006. 472 Seiten, 19,95 Euro