: Gegen die geschlossene Gesellschaft
LESSINGTAGE Bis zum 6. Februar träumt die zweite Ausgabe des Theaterfestivals „Lessingtage“ mit zwei Premieren und nationalen und internationalen Gastspielen von Weltbürgertum, Freiheit und kultureller Vielfalt
VON ROBERT MATTHIES
Ob man nun im Besitz der Wahrheit ist oder es nur zu sein glaubt oder nicht: Für den Wert eines Menschen ist diese Frage ganz und gar unerheblich. Worauf es tatsächlich ankommt, das ist „die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen“. Dass man sich dabei nun mal die meiste Zeit irrt – menschlich. Die Anerkennung des anderen, das ist keine Frage der Theologie oder der Wissenschaft, ja nicht einmal eine der gegenseitigen Übereinstimmung – sondern eine der Ethik.
Mit dieser Überzeugung steht Gotthold Ephraim Lessing bis heute wie kein anderer für das aufklärerische Ideal der Toleranz: Damit sich die Vernunft entwickelt, braucht es überhaupt gar keine göttliche oder wie auch immer geartete Offenbarung – einzig Kritik und Widerspruch sind vonnöten. Unzeitgemäß aber war Lessings unbedingte Toleranz schon zu seiner Zeit. Unzeitgemäß scheint sie auch heute noch zu sein: wer oder was dazugehören darf, zur Wahrheit wie zur Gesellschaft, das wollen immer noch die mehr oder weniger selbsternannten Experten aller nur erdenklichen Couleur entscheiden. Statt über Demokratie diskutiert man lieber unaufhörlich über Integration.
Dass und wie stattdessen auch am Beginn des 21. Jahrhunderts eine unbedingte Toleranz möglich ist, hat schon im letzten Jahr ein Theaterfestival des Thalia Theaters zu zeigen versucht – in Lessings Namen, Ende Januar und Anfang Februar, in den Wochen zwischen dessen Geburts- und Todestag. Wie eine kosmopolitische Kultur aussehen könnte und was aus der Idee einer transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft in den letzten zwei Jahrhunderten geworden ist, hat der neue Intendant Joachim Lux mit den ersten „Lessingtagen“ unter dem Motto „Um alles in der Welt“ gefragt. Mit rund 40 Veranstaltungen in gut zwei Wochen: eigenen Inszenierungen, nationalen und internationalen Gastspielen, Lesungen, Performances, Konzerten, Stadtführungen und Diskussionen. Und mit großem Erfolg.
Dieses Jahr gehen die Lessingtage in die zweite Runde. Von morgen an beschäftigen sich rund wieder rund 40 Veranstaltungen mit der unbedingten Toleranz, darunter zwei Premieren und zahlreiche Gastspiele aus Russland, Österreich, China, Kolumbien, Estland, Israel oder Brasilien, jugend- und soziokulturelle Projekte in der Innenstadt, Theaterexperimente, Diskussionen und der Beginn der neuen Programmreihe „Thalia Migration“.
Diesmal steht das Thema der interkulturellen Freundschaft im Fokus. Nicht im Sinne von „unterkomplexem Gebimmel und Kirchentagsprosa“, sondern verstanden als „politisches Programm von einiger Sprengkraft“, eingefasst von der Sehnsucht nach Freundschaft, wie sie in Schillers „Don Carlos“ zum Ausdruck kommt, und der versöhnungstrunkenen wechselseitigen Umarmung aller, vor der sich der Vorhang nach der Thalia-Inszenierung von Lessings „Nathan der Weise“ schließt.
Eröffnet wird das Festival indes inmitten der fundamentalen Unsicherheit unserer Tage. Auf der neuen Bühne des Thalia in der Gaußstraße inszeniert Sandra Strunz Don DeLillos Roman „Falling Man“, in dem sich dessen Protagonist Keith Neudecker, der im nach den epochalen Terroranschlägen des 11. September eingestürzten World Trade Center gearbeitet hat, gemeinsam mit seiner Ex-Frau und dem gemeinsamen Sohn langsam ins Leben zurückzutasten versucht. Ein Versuch, der allen misslingt. Zu gegenwärtig bleibt das Trauma des Terrors.
■ Fr, 21. 1. bis So, 6. 2., Thalia Theater, Alstertor 1, und Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Programm und Infos: www.thalia-theater.de