: Für immer Anna
Seit elf Jahren gibt es keine ZDF-Weihnachtsserie mehr. Fans und Stars zehren noch heute von den Geschichten vom Jungen, der sein Lachen verkaufte, und vom Mädchen, das Ballerina werden wollte
VON DAVID DENK
Schade. Aber Silvia Seidels Absage kommt nicht wirklich überraschend. „Über die Serie ‚Anna‘ gibt Frau Seidel keine Interviews mehr“, lässt die Schauspielerin durch ihre Agentin ausrichten. „Sie hat dazu alles gesagt.“
19 Jahre ist es her, dass Silvia Seidel das Ballettmädchen Anna in der gleichnamigen ZDF-Weihnachtsserie spielte. Jede der im Vorabendprogramm zwischen den Jahren ausgestrahlten Folgen führte Familien vor dem Fernseher zusammen und hatte deshalb eine Quote wie heute nur noch „Wetten, dass …?“: 13 Millionen sahen zu, wie sich Anna 6 mal 52 Minuten lang für ihren Traum von einer Karriere als Tänzerin quälte. „Das war ein Erfolg ungeahnten Ausmaßes“, erinnert sich Produzent Bernd Burgemeister. Ein Kinofilm folgte. Die Ballettschulen boomten. Alle Mädchen wollten werden wie Anna, so tanzen wie Anna. Anna, das war Silvia Seidel – und ist es für viele bis heute geblieben. Auch für Fernsehmacher. „Die Fantasielosigkeit vieler Leute ist grenzenlos“, sagte sie vor zwei Jahren in einem ihrer seltenen Interviews bei „Beckmann“. Es klang bitter. Im Fernsehen wäre sie die Rolle ihres Lebens nie losgeworden. Deshalb spielt Silvia Seidel heute vor allem Theater an Boulevardbühnen – für sie ein Akt der Emanzipation, für die Medien ein Absturz. „Sie tanzte nur einen Sommer“, schrieb die Funk Uhr über den Star der Weihnachtsserie von 1987. Das war 2002, 15 Jahre danach, und zeigt, wie tief „Anna“ in der kollektiven Erinnerung an die 80er-Jahre verwurzelt ist.
Mit am Tisch bei „Beckmann“ saß neben „Nesthäkchen“ Kathrin Toboll, heute Producerin beim Fernsehen, und Hendrik „Patrik Pacard“ Martz, mittlerweile Webdesigner und Musiker, auch Patrick Bach. Er spielte Annas querschnittgelähmten Freund Rainer – und wurde danach noch lange gefragt, „wieso ich jetzt hier rumlaufe und nicht im Rollstuhl sitze“.
Dass Zuschauer ihn mit der Rolle verwechseln, sieht er, anders als Silvia Seidel, nicht als Makel, sondern als Kompliment für seine schauspielerische Leistung: „Jürgen Prochnow wird auch sein Leben lang auf ‚Das Boot‘ angesprochen werden.“ Die Weihnachtsserien gehörten nun mal zu den größten Erfolgen seiner Karriere: „Ich würde mich selbst belügen, wenn ich sagen würde, dass ich darüber nicht mehr sprechen möchte.“
Vor Rainer in „Anna“ hat Bach schon „Silas“ (1981) und „Jack Holborn“ (1982) gespielt, danach, 1989, noch eine Nebenrolle in „Laura und Luis“. Und blieb deswegen nicht für immer auf den Zirkusjungen Silas festgelegt.
„Auch mit seinem intakten Umfeld hatte Patrick großes Glück“, sagt Produzent Bernd Burgemeister über seine Entdeckung. Bachs Mutter, eine Regieassistentin, habe den Kinderstar vorbildlich gegen die Schattenseiten des frühen Ruhms abgeschirmt. Burgemeister – der fast alle der 17 Weihnachtsserien von 1979 („Timm Thaler“) bis 1995 („Frankie“) produzierte – kann da furchtbar unappetitliche Geschichten erzählen: von „Päderasten, die um einige Schamhaare baten – falls der Junge schon welche habe“. Oder von einem Mann, der sich als Burgemeister ausgab und auf der Brieffreunde-Seite der Bravo nach „jungen Talenten“ suchte.
Die Talentsuche war auch für den echten Burgemeister ein heikles Thema: „Meine Frau hat sich irgendwann geweigert, mit mir im Sommer in den Englischen Garten zu gehen. ‚Mit dir kann man sich nicht zeigen, weil du immer siebenjährigen Mädchen nachguckst‘, hat sie gesagt.“ Damals war er gerade auf der Suche nach einem „Nesthäkchen“.
Am 1. Januar 1984, wenige Tage nach Ausstrahlung der letzten „Nesthäkchen“-Folge, ging Sat.1 als erster deutscher Privatsender auf Sendung, einen Tag später folgte RTL plus. Der Start des dualen Rundfunksystems war der Anfang vom Ende der ZDF-Weihnachtsserie. „In den letzten Jahren der Reihe ging die Nachfrage merklich zurück“, erinnert sich ZDF-Redakteurin Dagmar Ungureit. Außer auf die neuen Fernsehalternativen führt sie das auf einen Generationswechsel zurück: „Geschmäcker ändern sich, Bedürfnisse ändern sich.“ Produzent Burgemeister führt vor allem einen anderen Grund an: „Irgendwann wollte sich das ZDF die Weihnachtsserie nicht mehr leisten.“ Laut Burgemeister hat „Jack Holborn“ stolze 7,5 Millionen Mark gekostet, „Anna“ immerhin noch zwischen 3 und 4 Millionen. „Nach und nach hat das ZDF die Kosten gedrückt“ – ein Abschied auf Raten.
„Frankie“, der gegen den Widerstand seines Zahnarztvaters unbedingt Rockmusiker werden wollte, führte 1995 ein letztes Mal das Serienprinzip eines Jugendlichen, der sich in der Erwachsenenwelt behaupten muss, vor – stand jedoch im Schatten amerikanischer Produktionen wie „Beverly Hills 90210“. An ihn erinnert sich heute kaum noch jemand. Dafür diskutieren die Weihnachtsserien-Fans von einst, deren erstes Mal längst hinter ihnen liegt, bei Gelegenheit immer noch die Frage, ob Anna und Rainer je Sex hatten – trotz seiner Behinderung. Oder sie singen den „Anna“-Titelsong „My Love Is a Tango“ nach und tanzen dazu – ausnahmsweise. Denn den Traum von einer Ballettkarriere haben die meisten längst wieder aufgegeben.