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Archiv-Artikel

Klassischer Applaus

Als Tourist in fremden Ländern tut man gut daran, sich nicht zu grell gegen die dort herrschenden Sitten und Gebräuche zu stellen. Besonders beim Besuch von Weihestätten hält man es am besten so, wie das auch die Einheimischen tun. In manchen Religionen muss der Mann den Kopf bedecken und in manchen darf er das nicht. Dann kommt die Mütze eben vom Kopf, und dafür sollte sich die Frau verhüllen. Anderswo wieder ist der Kopf egal, da geht es um die Füße und dass man kein Schuhwerk tragen darf.

Sitten und Gebräuche eben, die man nicht plausibel finden muss und die sich halt eingespielt haben in langen Prozessen der Akkulturation. Weitergegebenes Wissen, wie man sich zu verhalten hat, zum Beispiel in einem klassischen Konzertsaal, wo man zu klatschen hat, wenn die ersten Musiker hereinkommen. Geklatscht wird, wenn danach die Solisten ihren Platz einnehmen, und zuletzt kommt der Dirigent, und auch dem klatscht man freundlich zu. Ist aber das erste Stück zu Ende gespielt, dann klatscht man nicht, was Frischlinge im Klassikbetrieb oft verwirrt. Von den Ältergedienten bekommen die dann als Erklärung gesagt, dass so ein klassisches Werk gemeinhin aus mehreren Sätzen besteht, die erst einmal alle durchgespielt sein müssen, bis das Werk eben fertig ist. Und dann darf man auch klatschen. Im Zweifelsfall hält sich der Tourist einfach an das, was auch die Einheimischen tun.

Und wenn man sich in der Neuen Musik, neugierig sich in anderen musikalischen Territorien umschauend, auch von so mancher Konvention befreit haben mag, ist sie doch weiterhin ein integraler Bestandteil der sogenannten Klassik. Was man einfach schon daran hören kann, dass auch hier im Konzertsaal immer erst geklatscht wird, wenn das Stück zu Ende ist, und zwischen den Sätzen nicht. Wobei die Sachlage hier noch etwas komplizierter ist, weil es die Neue Musik oft gar nicht so mit der Mehrsätzigkeit hat. Ein Blick ins Programmheft hilft.

Keine Probleme sollte es dabei heute Abend beim Auftaktkonzert zum Ultraschall-Festival mit dem Kammerensemble Neue Musik Berlin im Radialsystem geben. Keine mehrsätzigen Werke stehen hier auf dem Programm, das auch unbedingt von Interesse für den einigermaßen aufgeklärten Rockhörer ist mit zwei Stücken aus den Mittsiebzigern, einerseits „Phlegra“ von Iannis Xenakis mit seinen auseinandergleitenden Tönen und vor allem „Workers Union“ von Louis Andriessen, so ein kammermusikalisches Headbangen als Gegenthese zur minimalistischen Lull-Musik. Kann man wie Math-Rock hören. Eigentlich würde man dabei zwischendrin gern auch mal klatschen oder wenigstens mit dem Fuß mitstampfen. THOMAS MAUCH