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Archiv-Artikel

Das neue Leuchten aus Berlin

LITERATUR Suhrkamp, das waren Habermas, Handke, wunderschöne Buchcover und Diskurse, die Spaß machen. Doch dann schlief der Laden ein. Ein Neuanfang musste her: mit dem Umzug von Frankfurt nach Berlin vor genau einem Jahr. Welche Kräfte hat der Ortswechsel geweckt?

Die Suhrkamp-Story

1 Aufbau: Am 1. Juli 1950 gründete Peter Suhrkamp den Verlag. Berühmte Autoren wie Hermann Hesse, T. S. Eliot und George Bernard Shaw waren von Anfang an dabei.

2 Blüte: Peter Suhrkamp starb 1959, Siegfried Unseld wurde sein Nachfolger. Suhrkamp entwickelte sich zum wichtigsten Verlag Deutschlands. Adorno und Brecht erschienen hier, jeder zweite Büchnerpreisträger kam aus diesem Haus. Man sprach von der „Suhrkamp-Kultur“.

3 Stagnation: 2002 starb Siegfried Unseld. Schon vorher hatte er einige Kronprinzen als mögliche Nachfolger verschlissen, darunter seinen eigenen Sohn Joachim Unseld. Seine Witwe Ulla Berkéwicz-Unseld übernahm die Leitung. Es gab hausinterne Querelen und viel schlechte Presse.

4 Neuanfang: 2009 fiel der Entschluss, nach Berlin umzuziehen. Am 26. Januar 2010 wurde der Übergangssitz in der Pappelallee offiziell eingeweiht. Der endgültige Standort ist noch unklar.

VON KIRSTEN KÜPPERS UND DIRK KNIPPHALS

Es hat da, zum Beispiel, im vergangenen Sommer diese Sache mit den Lampions gegeben. Von ihr muss man unbedingt erzählen, bevor die vielen alten Geschichten, die immer über Suhrkamp berichtet werden, sie wieder unter sich begraben. Zwei Meter hohe, von innen her weiß glimmende Ballons waren das – und sie erleuchteten den großen, zum Wannsee hin abfallenden Garten des Literarischen Colloquiums Berlin bei dem von Suhrkamp ausgerichteten Sommerfest sanft und freundlich.

Mit Literatur oder Theorie hat das natürlich erst einmal noch nichts zu tun. Aber es ist seltsam mit Suhrkamp, dem Verlag, der die Bundesrepublik Deutschland geprägt hat wie kein zweiter: Schon solche dekorierenden Details können einem zu denken geben. Manche Beobachter fühlten sich zwar gleich leicht hämisch an einen Kindergeburtstag erinnert; aber da schwang wohl Enttäuschung darüber mit, dass sie statt leuchtender Lampions eher strahlende Autorenberühmtheiten wie Jürgen Habermas oder Peter Handke bei dem Fest erwartet hatten, die waren dann aber nicht gekommen.

Andere Festgäste legten sich jedenfalls bei der Deutung ganz anders ins Zeug. Das hat bei der intellektuellen Begleitung dieses Verlages auch Tradition. Gerade die Stilfragen sind bei Suhrkamp immer Teil der Literatur- und Geistesgeschichte gewesen, auch schon in den legendären Zeiten unter dem Verlagspatriarchen Siegfried Unseld. Mit den von Willy Fleckhaus entworfenen, betont modernen Buchcovern hat Suhrkamp zum Beispiel die bundesrepublikanische Literaturlandschaft geradezu aufgemischt. Schlichtheit und Gradlinigkeit – auf den Covern funktionierte das als Waffe gegen jeden überkommenen Geistesdünkel. Müsste man nun nicht auch diese Lampions als Statement lesen?

Mit ein bisschen guten Willen geht das. Suhrkamp, das war immer der Verlag der großen Erzählungen: Dialektik der Aufklärung, Weltliteratur, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Ordnung der Dinge, Brechthandkejohnsonenzensberger und Thomas Bernhard. Und Suhrkamp, das war lange der Verlag, der zeigte, wie cool es sein konnte, ein Intellektueller zu sein. Allerdings waren die neuen Geschichten zuletzt immer uncooler geworden – eine abschüssige, sich zur Verfallsgeschichte verdichtende Bahn: von der hegemonialen Suhrkamp-Kultur der Sechziger- und Siebzigerjahre bis zu den unübersichtlichen Nachfolgestreitigkeiten nach dem Tod Unselds im Jahr 2002. Die coolen Geschichten wurden immer älter; wobei es auch nichts hilft, dass Suhrkamp sie inzwischen gern selbst erzählt – zuletzt in der kürzlich herausgekommenen „Siegfried-Unseld-Chronik“. Eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hieß kürzlich sogar „Die Suhrkamp-Ära“ – der Verlag war zum Gegenstand fürs Museum geworden.

Aber nun gab es da also diese Lampions. Wunderschön sah das aus. Schlicht. Leicht. Für den derzeit eher zurückhaltenden und bodenständigen deutschen Literaturbetrieb halt auch ungewohnt stilbewusst. Einen allerdings streckenweise verregneten Sommerabend lang ließ Suhrkamp mit diesen Lampions auf diesem Fest eine Ahnung von Glamour erstrahlen.

Jahrelang gab es den Eindruck, dass Suhrkamp strampeln musste. Und nun inszenierten die Lampions einen schönen Moment. Zugleich funktionierten sie als Einladung, neben der Selbstvergewisserung mit bekannten Geschichten Entdeckungsreisen in die Gegenwart des Verlages zu unternehmen.

Wer sie annimmt, kann feststellen: Es hat, seitdem der Verlag von Frankfurt am Main nach Berlin gezogen ist, wieder eine ganze Reihe solcher Suhrkamp-Momente gegeben. Ein Jahr lang ist der Verlag nun offiziell in der Hauptstadt. Am 26. Januar 2010 wurde das neue Domizil in der Pappelallee in Prenzlauer Berg eingeweiht. Seitdem ist einiges passiert. Auch beim Büchermachen, aber vor allem darüber hinaus.

Was das Büchermachen betrifft, war es ein gutes Jahr, mit einigen Höhen und ein paar Tiefen. Mario Vargas Llosa hat den Nobelpreis bekommen, das bescherte dem Verlag satte Umsätze. Beim demnächst erscheinenden neuen Roman von Vargas Llosa ließ man sich allerdings von Rowohlt überbieten, seine spanische Agentin hatte schon vor der Nobelpreisentscheidung eine Art Auktion organisiert. Marie NDiaye wurde als Autorin durchgesetzt. Es gab die Neuausgabe von Arno Schmidts Überbuch „Zettel’s Traum“, eine verlegerische Großtat. Es gab Neues von Handke, Enzensberger und Christa Wolf. Positiv in den Bilanzen auffallen wird aber vor allem „Tage der Toten“ von Don Winslow. Ein klasse Buch.

Aber es geht bei Suhrkamp eben nicht nur ums Büchermachen im engeren Sinn. Immer noch hat intellektuelle Selbstverständigung hierzulande etwas mit Suhrkamp-Exegese zu tun. Das ist die eigentliche Nachricht dieses ersten Berliner Jahres. Zwar ist immer noch nicht klar, wo genau Suhrkamp in der Hauptstadt residieren wird; die drei oberen Etagen im ehemaligen Finanzamt in der Pappelallee sind nur eine Übergangslösung. Aber immerhin: Der Übergang steht Suhrkamp gut.

Die Adresse unter Hipstern und Bohemiens

Festmachen lässt sich das an einer anderen Adresse, Linienstraße 127, 10115 Berlin. Hier, im Herzen von Mitte, wo sich digitale Bohemiens und Hauptstadttouristen, Hipster, Geschäftsmodellausprobierer und Grill-Royal-Abhänger guten Tag sagen, hat der Verlag einen Laden für seine Edition Suhrkamp eröffnet. Nicht für immer, sondern nur ein paar Monate lang, in einer für Berlin so typischen Zwischennutzung. Daraus ist dann ein kleines intellektuelles Sommermärchen entstanden: der Beweis dafür, dass Suhrkamp es immer noch hinkriegt, Intellektualität cool aussehen zu lassen.

Was man dazu wissen muss: Die Berlin kulturell so dynamisch machende Mischung aus Hipkulturalisten, Jungautoren und Trendsettern der Kreativwirtschaft ist keineswegs homogen und auf gar keinen Fall stabil. Ein, zwei Saisons lang redet man hektisch über Kunst, dann aber wie in einem kollektiven Ruck nur noch über US-Fernsehserien; man schreibt fürs subkulturelle Hate-Magazin und plötzlich für die Welt am Sonntag; man geht eine Zeit lang in denselben Club, bis auf einmal wieder eine kollektive Suchbewegung nach neuen Orten einsetzt und über die Facebook-Netzwerke Tipps, Namen und Adressen ausgetauscht werden. Sprunghaft ist diese Szene, mal brillant, mal maulheldenhaft, aber immer neugierig.

Und genau diese Klientel, die um die eingeführten Literaturhäuser der Hauptstadt bis dahin immer einen großen Bogen gemacht hat, ist in diesem Sommer im Edition-Suhrkamp-Laden gewesen oder hat da zumindest hingeguckt. Es gab Lesungen, Buchpräsentationen, in Edition-Suhrkamp-Bänden blätternde Studentinnen und eine Spoken-Word-Performance des Schriftstellers Rainald Goetz, über die Zuhörer mit einer Mischung aus Erschöpfung und Beglückung berichten. Keine Revolutionen, aber der Gegenwartsdiskurs hat mal wieder Spaß gemacht.

Das alles hätte auch anders kommen können. Wie sehr so ein Erfolg oft nur an einer glücklichen Entscheidung hängt, zeigt sich, wenn man mit Friedrich von Borries redet. Auch hier spielt das Design eine wichtige Rolle. Friedrich von Borries, 36, wurde gefragt, ob er die Gestaltung dieses temporären Ladens in der Linienstraße übernehmen könne, weil er, wie er selbst glaubt, „der einzige Architekt unter den Suhrkamp-Autoren war“. Das war ein Glücksgriff. „Die Vorstellungen des Verlags klangen zuerst nach Stadtbücherei“, sagt von Borries lakonisch. Es hieß, der Verlag besitze noch alte Schwarzweißfotos von Peter Handke, die könne man aufhängen. Offenbar ist bei Teilen der Verlages die Versuchung immer noch groß, sich auf alten Lorbeeren auszuruhen. Wären diese Vorstellungen realisiert worden, hätte der Laden einige Deutschlehrer gerührt, aber nie die Ausstrahlung bekommen, die er dann tatsächlich hatte.

Friedrich von Borries machte es anders. „Ich wollte einen Ort schaffen, der zu Berlin passt. Ein Ort, der so ist, wie man sich in Berlin wohlfühlt.“ Er hat schlichte Regale des in Berlin-Mitte weltberühmten Projektemachers Rafael Horzon an eine Wand geschoben. In die Regale reihte von Borries die bunten Bücher der Edition-Suhrkamp-Reihe auf, so dass sich der Regenbogen, der sich durch die Sammlung der Buchrücken ergab, voll entfalten konnte. Ansonsten blieben die Wände weiß. Stühle von einem Designer für Recyclingmöbel wurden aufgestellt. Die Stühle standen jeden Tag anders im Raum. „Auch das steht für die Flexibilität einer Stadt wie Berlin“, sagt Friedrich von Borries.

Zurück zu den Büchern!, verlangt der Lektor

Der Laden ist inzwischen längst wieder zu, aber das symbolische Kapital ist geblieben. Und inhaltlich? Hat sich Suhrkamp da groß geändert? „Nein“, sagt Heinrich Geiselberger. Er kam vor viereinhalb Jahren als „absoluter Quereinsteiger“, wie er selbst sagt, von der Journalistenschule zu Suhrkamp und ist als Lektor für die Edition Suhrkamp zuständig. Der Anspruch der Edition, das ist nun also seine Grundaussage, während man in seinem Lektorenzimmer sitzt, habe sich nicht verändert: auf kontinuierlichem Niveau Gegenwartsdiagnosen betreiben. Und immer wieder gucken: Was ist heute gedanklich und formal originell?

Vielleicht waren solche Sätze mal Floskeln. In den Zeiten, als alle das machen wollten: Gegenwart, Gesellschaft, Analyse. Aber inzwischen, wo man eher Halt in Traditionen und Bildung sucht, sind das wieder echte Richtungsangaben. Sobald Geiselberger das Programm konkret auffächert, verlieren die Sätze dann auch gleich ihre Schlagworthaftigkeit. Da gibt es die philosophische Großessayistik: Habermas, Agamben. Es gibt das sozialwissenschaftliche Segment: Wilhelm Heitmeyer, Richard Münch, zuletzt Colin Crouch und Daniel Miller. Es gebe das literarische Segment, von Detlef Kuhlbrodt bis Durs Grünbein. Und schließlich gibt es das journalistische Segment, zuletzt vertreten etwa durch die Studie „Die da oben“, ein Interviewband mit deutschen Topmanagern.

Das alles passt also in diesen Bücher-Regenbogen im Suhrkamp-Laden. Der funktionierte für Heinrich Geiselberger eben nicht wie ein Showroom, sondern eher wie eine sanfte Aufforderung: Zurück zu den Büchern! Er hält den, wie er sagt, in den Medien breitgetretenen Was-ist-heute-eigentlich-mit Suhrkamp-los-Plot sowieso für überschätzt und entkoppelt von der Realität des Büchermachens.

Zwischendurch blickt man sich als Besucher um. Man kann gut sitzen in diesen Lektorenbüros hier oben im vierten Stock in der Pappelallee. Kollegen kommen herein. Papierstapel warten zur Bearbeitung. Schnell hat man das Gefühl, dass der Suhrkamp Verlag eh ein Kosmos für sich ist, der so starken Binnendruck erzeugt, dass es im Grunde wirklich egal ist, ob er nun in Berlin oder Frankfurt angedockt ist.

Dennoch: Wer Heinrich Geiselberger zuhört, bekommt einen Eindruck davon, was Suhrkamp besonders macht, immer noch – und warum das durch Berlin noch einmal neu aufgeladen werden könnte. Auf der einen Seite, sagt Geiselberger, ist Suhrkamp ein Verlag, der in unserer ausdifferenzierten Öffentlichkeit noch immer die theorieaffinen Subnischen erreicht, an die sonst nur spezialisierte Diskurs-Kleinverlage wie Merve oder Diaphanes herankommen. Und auf der anderen Seite, ergänzt man selbst, ist Suhrkamp immer noch ein Publikumsverlag, der bis in den Mainstream reicht. Suhrkamp kann mal wie ein Kleinverlag und mal wie ein Großverlag agieren und dadurch wie eine Pumpe funktionieren. Es kann etwas aus den Nischen emporfördern und manche der Entdeckungen dann nach oben und in die Seriosität spülen.

Sie erfinden sich, indem sie in Laptops tippen

Kein Wunder, dass das in Berlin-Mitte auf interessierte Fantasien stößt. Das Konzept, sich selbst zu erfinden, indem man Texte in Laptops tippt, läuft hier auf vollen Touren. Aber so ein Instrument wie Suhrkamp fehlte noch. Bislang konnte man seine Texte in Blogs stellen oder sich als sogenannter Nachwuchsautor durchschlagen; aber mit Suhrkamp, dem Verlag der großen Erzählungen, ist zumindest die Chance da, dass einige dieser Texte groß rauskommen.

Das muss nicht funktionieren. Denn große Erzählungen lassen sich nicht einfach konstruieren. Es kann sich herausstellen, dass es auch in Berlin-Mitte gar nicht so viel Neues zu sagen gibt. Oder es kann auch sein, dass Suhrkamp sich doch lieber noch mehr mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen möchte. Aber das Hochhängen von Geschichten hat im ersten Berliner Suhrkamp-Jahr schon ansatzweise geklappt.

Rafael Horzon kann halt nicht nur Regale bauen. Sein zwischen Mitte-Bildungsroman, fröhlicher Postmoderne und charmanter Dampfplauderei changierendes „Weißes Buch“ fand mit dem Suhrkamp-Label viele Fans. Für den Lektor Heinrich Geiselberger hätte Horzon vor 40 Jahren übrigens gut zu Enzensberger gepasst, im Segment der spielerischen Zeitdiagnostik. Tobias Rapp hat zuvor schon mit dem Buch „Lost and Sound“ die Berliner Technokathedrale Berghain eine Zeit lang als Sehnsuchtsort der deutschen Gegenwart etabliert.

Der Deal geht vielleicht so: Berlin-Mitte gibt die Originalität – und Suhrkamp das Renommee und damit die Versicherung, dass das alles mehr ist als Nerdtum oder intellektuelle Spielerei.

Der Deal geht so: Berlin-Mitte gibt Originalität, Suhrkamp die Versicherung gegen das Nerdtum

Dass der Deal funktionieren kann, glaubt man, solange man mit dem Autor Thomas Meinecke durch Berlin-Mitte spazieren geht. Meinecke, 55, DJ, Radiomoderator, Schriftsteller, eigentlich auf einem alten Bauernhof in einem Dorf nahe des Starnberger Sees lebend, aber zurzeit dauernd in Berlin, ist ein wichtiger Mann bei Suhrkamp. Zusammen mit Rainald Goetz hat er jahrelang den Anspruch eines radikalen Gegenwartsbezugs hochgehalten. Inzwischen sitzen die zwei im Beirat der Siegfried-Unseld-Stiftung.

Nun trifft man sich also in einem Café und Meinecke sagt den einen Kernsatz: „Es war nur konsequent, dass Suhrkamp dorthin geht, wo die Entwicklung stattfindet. Alle sind doch hier in Berlin.“ Dann sagt er den anderen Kernsatz: „Suhrkamp war immer auf der Höhe des Diskurses.“ Später erzählt Meinecke sein persönliches Suhrkamp-Erlebnis: Wie ihn Siegfried Unseld eines Abends am Rande eines Empfangs in der Frankfurter Verlegervilla am Ärmel gezupft und in sein Arbeitszimmer gezogen habe. Wie ihm Unseld dort seine Werther-Erstausgabe gezeigt habe. Wie das der Moment gewesen sei, in dem ihn der Alte in die Gemeinde aufgenommen habe. „Eine Initiation“, sagt Meinecke. „Es war klar: Jetzt gehöre ich als Autor zur Suhrkamp-Familie.“

Ob sich solche Erlebnisse auch in der neuen Berliner Umgebung herstellen lassen, muss sich erst noch zeigen. Neu belebt wird jedenfalls die eigentümliche suhrkampsche Stellung zwischen Sub- und Hochkultur, die den Verlag lange auszeichnete und zuletzt etwas in Vergessenheit geraten war. Das zeigten zwei Veranstaltungen, die unterschiedlicher gar nicht sein konnten, aber beide zu Suhrkamp passten. An einem Donnerstag im Spätsommer feierte man die Premiere von Rafael Horzons „Das weiße Buch“ in der Berghain-Kantine. Es gab angesagte DJs, komplett anwesende Stammbesatzungen der Tresen aus den umliegenden Trendbars und Blondinen, die auf dem Männerklo ihre Linien zogen. Selbst mit den legendärsten historischen Suhrkamp-Besäufnissen, etwa unter Beteiligung von Martin Walser und Uwe Johnson, konnte diese Party mithalten.

Und am Dienstag drauf feierte Suhrkamp dann im hochoffiziellen Ambiente des Berliner Roten Rathauses die Verleihung des Siegfried-Unseld-Preises an Amos Oz und Sari Nusseibeh. Der israelische Schriftsteller und der palästinensische Intellektuelle umarmten sich. Für einen schönen, kurzen Augenblick sah es so aus, als wäre die Lösung des Nahostkonfliktes nur eine Frage des guten Willens. Und während man beim anschließenden Empfang durch die Säle schritt, bemerkte man Suhrkamp-Mitarbeiter, die bei Horzon noch betont casual in Jeans gewesen waren, nun in Anzug und Kleid.

Vielleicht ist es ja ganz gut, dass die alte Suhrkamp-Ära vorbei ist, auch für Suhrkamp selbst. So kann der Verlag die intellektuelle Flexibilität, die ihn lange auszeichnete, wieder als Stärke ausspielen. Und es bleibt ja auch noch viel aus der Suhrkamp-Ära. Unbedingt muss man in diesem Zusammenhang von der Lektorin Eva Gilmer erzählen. Ein unscheinbares, vielleicht 15 Quadratmeter großes Zimmer ist das – und mitten hindurch laufen viele der intellektuellen Kraftlinien dieser Republik.

Eva Gilmer, 45, ist für das Wissenschaftsprogramm verantwortlich. Sie ist die Lektorin von Jürgen Habermas – genauso aber auch für das Werk seiner großen Antipoden Niklas Luhmann und Michel Foucault zuständig. Noch immer kommt kein Geisteswissenschaftler Deutschlands an diesem Programm vorbei. Gerade gingen neue Bücher von Martha Nussbaum und aus dem Nachlass von John Rawls über ihren Schreibtisch. In diesem Zimmer also werden die Gedanken aus dem akademischen Wissenschaftsbetrieb in die gesellschaftliche Debatte eingespeist. Gilmer hat mal als Stewardess gejobbt, später hat sie die Hochtheorie des Sprachphilosophen Robert Brandom ins Deutsche übertragen. Nun ist sie eine Art intellektuelle Torwächterin, die entscheidet, was aus der akademischen Welt in die Öffentlichkeit gelangt. Dazu muss sie gelegentlich theoriefernen Menschen vermitteln, wie wichtig Theorie ist; und gelegentlich den Theoretikern, dass Theorie nicht alles ist. Beides kann sie.

„Meine Stelle gibt es so in keinem anderen Verlag“, sagt Eva Gilmer. Während andere Häuser große Thesenbücher raushauen, gibt es bei Suhrkamp Traditionen zu bewahren. Mit zwei Grundentscheidungen hat dieser Verlag die Bundesrepublik geprägt. Man wollte, sagt Eva Gilmer, geisteswissenschaftliche Bücher „rausholen aus den akademischen Ghettos“; der Anspruch ist bis heute da, dass auch Nichtwissenschaftler diese Bücher lesen. Und man hat immer ganze Debatten abgebildet und sich dabei nie nur auf eine Seite geschlagen. Auch das gilt bis heute. Eva Gilmer sagt: „Dekonstruktivisten sollen ihre Bücher bei Suhrkamp finden, aber auch Neokantianer.“

Neben den Lampions, dem Laden und dem Deal ist das auch eine Erzählung, die man allmählich mal hochhängen könnte: Sie berichtet vom Weitermachen und vom Hochhalten intellektueller Ansprüche. Bei Suhrkamp begegnet man ihr so nebenbei.

Die Begegnung mit dem Autor Thomas Meinecke dagegen endet mit Musik. Nach dem Treffen geht Meinecke raus aus dem Café und rüber auf die andere Straßenseite, in den Plattenladen, setzt seine Lesebrille auf, wühlt in Kisten mit House- und Techno-Platten. Er stellt sich an den Plattenspieler, schiebt sich die Kopfhörer auf, wippt mit dem Kopf, guckt ins Leere, verliert sich ein bisschen in den Sounds.

„Schon seit einer Weile kann man sich mit den Mitarbeitern des Verlags genauso über Thomas Berhard unterhalten wie über Lady Gaga. Das ist natürlich toll!“, ruft einem Thomas Meinecke noch zu. Auch ein ziemlich cooler Suhrkamp-Moment.

Kirsten Küppers, 38, ist sonntaz-Autorin. Gerade hat ihr das Suhrkamp-Buch „Die Billigesser“ von Thomas Bernhard gefallen

Dirk Knipphals, 47, taz-Literaturredakteur und Vielleser. Das Suhrkamp-Regal mit 800 Bänden für 5.990 Euro will er aber nicht kaufen