: Vom Leben und Sterben in einem Schutzwall aus Müll
MISANTHROPIE Mitten in New York, fern von den Menschen: E. L. Doctorow erzählt von den bekanntesten Messies Amerikas – „Homer & Langley“
VON FRANK SCHÄFER
Die Brüder Homer und Langley Collyer waren New Yorker Legenden und schon zu Lebzeiten feste Größen in den lokalen Klatschspalten, weil sie sich inmitten der Stadt von ihr fernhielten. In einer Art urbanen Thoreauismus verbarrikadierten sie ihr Elternhaus, müllten es systematisch zu und kamen schließlich 1947 darin um. Als die ersten historisch belegten Messies sind sie auch kulturgeschichtlich von einer gewissen kuriosen Relevanz. E. L. Doctorow hat in seinem neuen Buch „Homer & Langley“ diesen Mülleimer der Geschichte nun umgedreht und mit der Lizenz des souveränen Romanciers („Ragtime“, „Der Marsch“) zu einem Kunstwerk neu zusammengesetzt, das in seiner Mehrschichtigkeit und Vieldeutigkeit über den historischen Fall weit hinausgeht.
Wie bei den Collyers – „als wehten die Zeitläufte durch unser Haus wie ein Wind“ – die Gegenstände des Alltags zu einer monströsen Assemblage von „Objet trouvés“ oder gar zu einem Museum für amerikanische Kulturgeschichte sedimentiert sind, so häuft Doctorow Bedeutungsschicht für Bedeutungsschicht aufeinander, indem er seinen blinden Protagonisten Homer mehr oder weniger chronologisch, aber eben auch umherschweifend, anekdotisch aus dem tragikomischen Leben der beiden erzählen lässt und dabei seinen Stoff mit immer neue Chiffren und Verweisen, nicht zuletzt auf die US-Heilsgeschichte, überschreibt.
Bei Doctorow sind Homer und Langley vom Leben versehrt. Homer erblindet schon als junger Mann. Langley zieht in den Ersten Weltkrieg. Senfgas verätzt seine Lunge, die erlebten Kriegsgräuel verstümmeln seine Seele. Als defätistischer, neurotischer Misanthrop kehrt er aus dem Krieg zurück. Sein Springfield-Gewehr gibt der Veteran nicht ab, es wird „das erste Stück in der Sammlung von Artefakten aus unserem amerikanischen Leben“. Die Collyers erschaffen in der Folge einen Schutzwall aus Dingen um sich herum, um dem Krieg des Lebens da draußen zu entrinnen.
Das Tragische daran ist nur, dass man ihm schlicht nicht entrinnen kann. Die Collyers müssen sich nicht nur mit Banken, Behörden, neugierigen Reportern und Einbrechern herumschlagen. Auch ihr häusliches Leben gleich irgendwann einem permanenten Kriegszustand. Strom und Wasser sind längst abgestellt, weil sie keine Rechnungen mehr bezahlen, obwohl sie sich das ohne Weiteres leisten könnten. Langley hat überall Fallen gegen unliebsame Besucher aufgestellt. Die schmalen Gänge und Tunnel, die vom Müll freibleiben, damit er seinen behinderten Bruder notdürftig verpflegen kann, erinnern an Schützengräben. Das Buch ist also vor allem anderen eine zutiefst pessimistische Parabel auf die ewige Unbehaustheit des Menschen.
Auf die existenzphilosophische folgt eine tiefenpsychologische Bedeutungsschicht. Die großbürgerlichen Eltern lassen den beiden Brüdern eine hervorragende Ausbildung angedeihen, vernachlässigen sie aber emotional. An einer der traurigsten Stellen des Buches bekennt Homer, er könne sich an kein einziges Wort von ihnen erinnern. Die Einfriedung ihrer Existenz, legt der Autor nahe, ist auch ein symbolischen Akt der Regression. Zurück in den Mutterleib.
Es gibt auch noch eine mythologische Schicht mit durchaus polemischer Stoßrichtung. Homer und Langley sind Exponenten des alten Pionieradels und haben die Selfmademan-Ideologie der USA verinnerlicht und so konsequent zu Ende gedacht, das sie notwendig zu forcierter Egozentrik und Asozialität führen muss. Langley glaubt Emersons Maxime „Vertraue dir selbst“ so total, dass er sie letztlich zu einem „Misstraue allen anderen“ umdeutet.
Und sogar eine politische Bedeutungsebene hat Doctorow eingezogen, indem er die Lebensspanne der Brüder bis in die siebziger Jahre ausdehnt und sie eine kurze, glückliche Weile zu Gurus einer jugendlichen Flower-Power-Clique avancieren lässt. In dieser Episode erscheinen sie, jedenfalls den Hippies, die sie umschwirren, als Drop-out-Ikonen, die längst praktizieren, wovon diese Lebensabschnittsrenegaten träumen. Aber das Glück währt nicht lange, die „Zugvögel“ ziehen weiter, als es Winter wird. Unannehmlichkeiten sind in dieser hedonistischen gegenkulturellen Gemeinschaft nicht vorgesehen.
Gegen Ende des Buches trifft Homer vor dem Haus eine französische Journalistin. Ihr Gespräch ist ein indirekter Kommentar zu diesem Buch. Die Europäerin wundert sich über die geschlossenen Fensterläden des Collyer-Hauses. Die seien eigentlich untypisch für Amerika, weil das Land noch keine Geschichte habe, die es verbergen müsse. Aber Homer widerspricht. Also rät sie ihm, die Geschichte aufzuschreiben, „die schwarzer Fensterläden würdig ist“.
Es ist auch eine Geschichte Amerikas, die Doctorow hier am Beispiel seiner beiden Antihelden erzählen wollte. Und sie ist anrührend schön und schrecklich zugleich – den schwarzen Fensterläden absolut würdig.
■ E. L. Doctorow: „Homer & Langley“. Aus dem Amerikanischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 224 Seiten, 18,95 Euro