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Archiv-Artikel

„Die Leute müssen fühlen“

DISCO Mit dem Hit „Blind“ wurden Hercules and Love Affair zu internationalen Popstars. Der Sänger damals: Antony Hegarty. Nun erscheint das Album „Blue Lines“. Bandchef Andrew Butler im Interview

Andrew Butler

■ Der Musiker: geboren 1978 in Denver, Colorado, begann mit 15 Jahren als DJ aufzulegen. 1996 Umzug nach New York zum Musik- und Kunstgeschichtsstudium. 2008 erschien das Debütalbum seiner Band Hercules and Love Affair. Die Single „Blind“ mit Antony Hegarty als Sänger wurde zum internationalen Hit.

■ Das Album: „Blue Songs“, die zweite Platte von Hercules and Love Affair, wurde von Andrew Butler mit neuen Sängern aufgenommen. Produziert hat er sie gemeinsam mit dem Technoproduzenten Patrick Pulsinger und dem Industrial-Musiker Mark Pistel. Es erscheint am 28. Januar auf Moshi Moshi Records.

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME

taz: Sie tragen ja ein T-Shirt der Death-Metal-Band Entombed. Finden Sie solche Musik etwa gut?

Andrew Butler: Ja, das tue ich. Auch Nihilist, die Vorgängerband. Überhaupt den schwedischen Death Metal. Und Grindcore oder Thrash Metal. „Streetcleaner“ von Godflesh war für mich ein Schlüsselalbum, als ich fünfzehn war. Wenn man hört, was ich selbst für Musik mache, mag das schon ein bisschen seltsam klingen.

Haben Sie als DJ auch schon Metal aufgelegt?

Nein, das nicht. Ich wollte es letztes Jahr zu Halloween tun. Doch dann hatte ich nur das Stück „Godlike“ von KMFDM dabei. In dem wird ein Riff von Slayer verwendet. Und dann hab ich’s doch nicht gespielt. Aber ich liebe Metal. Mein jüngerer Bruder singt in einer Death-Metal-Band. Er hat mir ein bisschen Nachhilfe in Sachen aktueller Black und Death Metal gegeben.

Sie gelten als Produzent eleganter Disco-Rhythmen. Ist Metalhören für Sie eine Art privates Gegenprogramm dazu?

Vielleicht. In meiner Tanzmusik will ich jedoch keine elektrischen Gitarren hören. Mir würde sich der Magen umdrehen, wenn ich da in so eine verzerrte Gitarre hören müsste. Ich mag aber die Sachen, die in Richtung Postpunk gehen, LCD Soundsystem oder Dancepunk.

Das Tragen von Metal-T-Shirts ist also kein feingeistiger Gag? Nein, ich höre diese Musik wirklich sehr gern. Seit letztem Jahr kann ich sogar zu Slayer einschlafen. Ich finde das ungeheuer entspannend. Bei Autofahrten habe ich auch angefangen, unserer Sängerin Kim Ann Foxman diese Sachen vorzuspielen. Niemand aus der Gruppe hatte dafür zunächst ein Interesse. Doch ich fand es wichtig. Inzwischen kann Kim Metalgenres wie Thrash oder Grindcore voneinander unterscheiden.

Sie sind ein leidenschaftlicher Musikdidaktiker?

Das war ich wohl immer schon. Ich war in jungen Jahren von Leuten umgeben, die mich einfach auf einen Stuhl gesetzt haben und sagten: „Hör dir mal diese Platte an. Das ist der Anfang von House Music. Und die hier, die kam ein Jahr später heraus, hör sie dir danach an.“ Ich habe tatsächlich ganze Tage bei einem Menschen auf der Couch verbracht, der mir alles beigebracht hat. Zumindest hatte ich damals das Gefühl. Später habe ich mir einfach immer mehr und neue Mentoren gesucht.

Wie alt waren Sie damals, wann haben Sie als DJ angefangen?Ich war fünfzehn und hatte natürlich auch schon meine eigenen Nachforschungen angestellt. Ich war völlig besessen von Linernotes, Musik, Magazinen und den Verbindungen von einer Band zur anderen. Die erste Platte, die mir geschenkt wurde, war „Bad“ von Michael Jackson. Die erste Platte, die ich mir gekauft habe, war INXS, „Listen like Thiefs“. Ich bin immer noch ein großer Fan von Michael Hutchence und INXS.

Aber musikalisch hat sich der Schwerpunkt Ihres Interesses schon verschoben? Ein bisschen. Das neue Album ist dabei für mich weniger ausschlaggebend als unser Disco-Debüt 2008. Ich hatte zwölf Jahre damit verbracht, Disco-Platten zu sammeln. Ich habe richtig geforscht, mich schlaugemacht, ganze Sammlungen gekauft. Dann fing ich an, wieder klassische House-Musik zu hören, die ich als Fünfzehnjähriger gehört hatte. Und ich fand, dass diese Musik eine völlig andere Stimmung schafft, völlig andere Emotionen hervorruft als Disco. Als Teenager fühlte ich mich bei House tatsächlich als etwas ganz Besonderes. Bei dem neuen Album habe ich jetzt versucht – ich hoffe, es hört sich nicht zu prätentiös an –, mehr nach Andrew Butler zu klingen.

Wie meinen Sie das?

Früher habe ich am Klavier Musik geschrieben, die wie klassische Musik klang. Am College hieß es dann immer: „Oh, das hört sich wie Bartók an.“ Natürlich hatte ich Stücke von Bartók geübt, die mich beeinflusst haben. Aber jetzt hat mich House Music beeinflusst. Ich wollte wieder der Elfjährige sein, der sich fragt: „Warum fühle ich mich durch diese Melodie so besonders? Warum mag ich sie?“

In Ihren Melodien gibt es ziemlich große Sprünge. Entstehen die am Klavier?

„Blind“ habe ich damals vollständig am Klavier geschrieben. Als Antony Hegarty es zum ersten Mal hörte, meinte er: „Das ist keine Melodie für eine Gesangsstimme. Die ist für ein anderes Instrument gemacht, aber ich versuch mal, es zu singen.“ Auch die Sprünge und Intervalle – etwa in „My House“ auf dem neuen Album – sind für die Stimme nicht sehr natürlich. Ich habe die Tendenz, meinen Sängern etwas anzutun, was sie nicht unbedingt schätzen. Aber so ist nun mal meine Musik.

Sie haben für „Blue Lines“ mit dem Technoproduzenten Patrick Pulsinger und mit Mark Pistel zusammengearbeitet, der früher bei Bands wie Consolidated und Meat Beat Manifesto spielte. Wie kam diese Konstellation zustande?

Meat Beat Manifesto und Consolidated hatten großen Einfluss auf mich. Diese Musik half mir als Teenager herauszufinden, wer ich bin. Als ich Mark dann traf, sagte ich zu ihm: „Du hast mir das Gefühl gegeben, dass es okay ist, schwul zu sein.“

Wie das?

Als Fünfzehnjähriger sah ich im Musikfernsehen auf MTV ein Consolidated-Video. Dort wurden Bilder einer Demonstration für die Rechte von Homosexuellen gezeigt. Und ich merkte: „Es gibt da draußen tatsächlich Verbündete. Ich kann also tatsächlich sein, wer ich bin.“ Und Meat Beat Manifesto waren so verdammt subversiv. Auf ihrem ersten Album, „Storm the Studio“, gab es ein intensives Jungle-artiges Stück, in das sie Samples zur Aidskrise eingebaut hatten. Sie waren für mich unglaubliche Künstler. Und damals dürstete ich nach solchen Verbündeten.

Das Album „Blue Songs“ ist insgesamt schroffer und härter ausgefallen als der Vorgänger. Hat das auch damit zu tun, dass es in den letzten zwei Jahren einige Veränderungen in Ihrem Leben gegeben hat?

Ich erlebte Dinge, die mich zum Teil traurig und wütend gemacht haben.

Meinen Sie damit auch die letzte Tournee von Hercules and Love Affair?

Es hatte ganz bestimmt auch damit zu tun.

Was ist da schiefgelaufen?

Es war für eine Debütband vermutlich ein etwas zu ehrgeiziges Projekt, mit acht Musikern auf Tour zu gehen. Die Veranstalter haben ständig auf die Kosten geschaut und gesagt: Tut uns leid, wir können euch nicht buchen. Ich war echt frustriert. Die Musiker haben wirklich alles gegeben, aber ich konnte ihnen nicht das bezahlen, was sie verdient hätten. Ein weiterer Grund ist, dass ich nicht den Eindruck hatte, dass wir als Band auf der Bühne das liefern konnten, was die Songs eigentlich gebraucht hätten. Und ich wollte, dass es härter ist. Mehr wie bei einem Clubabend, wenn man den Bass in der Brust fühlt.

Und die vielen Umbesetzungen – außer Kim Ann Foxman und Ihnen ist niemand von der früheren Besetzung mehr vorhanden?

Antony hat seine Solokarriere, der ist weg. Nomi hat andere Projekte und macht ihr eigenes Ding.

Wenn Antonys Karriere sich anders entwickelt hätte, wäre Hercules and Love Affair eine Band mit ihm als festem Sänger geworden?

Antony und ich haben mal darüber gesprochen, ob wir das nur zu zweit machen sollten. Wir waren beide der Ansicht, dass es besser für uns wäre, es nicht zu tun.

Sie selbst sind zwischenzeitlich von New York zurück nach Colorado gezogen.

Ich war vor meinem Umzug kaum noch in New York und habe meine Freunde dort selten getroffen. Auch nach Denver kam ich nicht mehr, konnte meine Familie nicht sehen. Das alles hat mich erschöpft und unglücklich gemacht. Ich brauchte Entspannung und wollte näher an meiner Familie sein. Und ich brauchte mehr Raum. In New York war alles eng und überfüllt und wurde immer schneller. Da gab es nie Ruhe. Ich habe dort zwölf Jahre gelebt. Es war an der Zeit, ein wenig gelassener zu werden.

Sie haben über Ihr früheres Album mal gesagt: Die Leute müssen tanzen. Sehen Sie das immer noch so?

Müssen die Leute tanzen? Die Leute müssen sich gefühlsmäßig verausgaben. Sie müssen fühlen. Es gibt Momente, in denen ich will, dass die Leute tanzen. Aber es gibt auch Momente, in denen ich möchte, dass sie sowohl denken als auch fühlen. Tanzen ist einfach der sichtbare Ausdruck des Gefühls. Und diese Platte hat wohl viel mit Gefühl zu tun.

Hercules and Love Affair: „Blue Songs“ (Moshi Moshi)