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Archiv-Artikel

„Die Veränderungen sind gar nicht so radikal“

Keine der linken Regierungen in Lateinamerika macht eine Wirtschaftspolitik, die Investoren generell abschreckt, sagt die Ökonomin Barbara Fritz

taz: Frau Fritz, wie links ist die Wirtschaftspolitik der neuen Regierungen Lateinamerikas?

Barbara Fritz: Das ist sehr unterschiedlich. Während etwa Venezuelas Präsident Hugo Chávez wirklich an die internationalen Ölfirmen herangegangen ist und sie teilweise enteignet hat, sind die Veränderungen in anderen Ländern gar nicht so radikal.

Das Kernziel der Wirtschaftspolitik linker Regierungen muss es doch sein, sich Spielräume zu erobern, um Sozialprogramme auflegen zu können. Schaffen sie das?

Das ist tatsächlich das zentrale Versprechen. Die rohstoffreichen Länder Lateinamerikas haben es zurzeit natürlich einfacher, gerade Venezuela, wo die Öl- und Gaseinnahmen sprudeln. Das setzt Chávez unter anderem in erhöhte Sozial- und Bildungsausgaben um. Allerdings: Wir kennen keine Zahlen über Öleinnahmen und den öffentlichen Haushalt. Ob Chávez nicht schon längst an seine Grenzen gestoßen ist, ist nicht zu sagen.

Und Lula in Brasilien, immerhin der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas?

Lula versucht den orthodoxen Weg. Brasilien verdient gerade relativ viel Geld mit Sojaexporten, aber das sprudelt nicht direkt in die Staatskasse. Lula will über Entschuldung, das Niedrighalten der Inflation und das Offenhalten der Tore für internationale Investitionen Raum für Sozialpolitik erobern. Er hat sein „Null Hunger“-Programm schon umgewandelt in das Familienstipendienprogramm, was tatsächlich die Indikatoren absoluter Armut auch in Brasilien verbessert hat. Aber die Anforderungen in Brasilien wären sehr viel größer.

In der Vergangenheit sind Versuche linker Regierungen oft dann an ihre Grenzen gestoßen, wenn sie Agrarreformen angegangen haben oder versucht haben, über eine veränderte Fiskalpolitik Kapital oder Gewinne abzuschöpfen. Sie hatten schnell mit Kapitalflucht und Blockaden der internationalen Finanzinstitutionen zu tun. Wie ist das heute?

Im Moment haben alle lateinamerikanischen Länder, eigentlich alle Länder der Dritten Welt, eine recht entspannte Situation, weil die weltwirtschaftliche Situation wirklich gut ist. Exporte aus Entwicklungsländern boomen und generieren hohe Exporteinnahmen. Nur ganz wenige Länder hängen noch am Tropf des Internationalen Währungsfonds. Solange Deviseneinnahmen über Exporte zufließen und die Inflation nicht durch überhöhte staatliche Ausgaben massiv steigt, muss das die Kapitalflucht gar nicht anheizen. Außerdem macht keine Regierung eine Politik, die generell Investoren abschrecken würde. Sie gehen punktuell vor, eben zum Beispiel bei Gas- oder Erdölvorkommen, wo sie entweder verstaatlichen oder die Steuerabgaben auf Öleinnahmen auf über 50 Prozent erhöhen. Und außer in Bolivien, wo es Ansätze dazu gibt, betreibt derzeit auch kein Land massiv eine Agrarreform, die Enteignung oder auch nur Besteuerung von Vermögen – da sind sie alle recht vorsichtig.

Wie groß sind denn die Chancen eines Revivals der innerlateinamerikanischen Wirtschaftsintegration, etwa durch eine Ausweitung des gemeinsamen Marktes Mercosur oder durch Chávez’ Vorschlag einer „bolivarischen Alternative“?

Lateinamerika ist eher ein großer Flickenteppich. Mexiko ist über das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta ganz eng an die USA gebunden. Die zentralamerikanischen Länder haben auch als Verbund ein Freihandelsabkommen mit den USA geschlossen, ein Teil der karibischen Länder und Chile auch. Uruguay und Paraguay drohen immer mal wieder damit, aus dem Mercosur auszutreten, weil sie als kleine Länder ihre Interessen überhaupt nicht durchsetzen können. Durch den Beitritt Venezuelas verändert sich der Mercosur: Das Land bringt andere, politischere Ideen ein, etwa die der bolivarischen Alternative. Dieses Projekt ist schwer zu beurteilen, denn bislang haben die Länder der Region nicht viel zu verkaufen. Die bolivarische Alternative beruht auf politischem Willen, hat aber zunächst kein ökonomisches Fundament.

INTERVIEW: BERND PICKERT