Millionen für die Armen

Die Linksregierungen Lateinamerikas haben einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vollzogen – mit positiven Ergebnissen

VON MARK WEISBROT

Neue Führungspersönlichkeiten verändern Lateinamerika – und das Verhältnis der Region zu den Vereinigten Staaten, zu multilateralen Institutionen, internationalen Finanzmärkten und ausländischen Investoren. In den USA wird diese Entwicklung oft unter politischen Gesichtspunkten gewertet, etwa als Aufstieg von „Populismus“ oder „Antiamerikanismus“. Tatsächlich jedoch liegt der Schlüssel zum Verständnis in der Wirtschaftspolitik der jeweiligen Regierungen.

Rafael Correa, Ecuadors neu gewählter Präsident, ist dafür ein herausragendes Beispiel. Letzte Woche ließ er die Anleihenmärkte des Landes erzittern, als er ankündigte, er werde versuchen, Ecuadors Außenschulden zu restrukturieren. Er zielt auf eine 75-prozentige Schuldenreduzierung. Die Einsparungen beim Schuldendienst will er nutzen, um die Sozialausgaben zu erhöhen. Correa hat seinen Magister der Wirtschaftswissenschaften an der University of Illinois gemacht. Er versteht sehr gut, dass ausländisches Kapital durchaus zur Entwicklung beitragen kann. Aber wenn ein Land sich nur verschuldet, um alte Schulden zu bezahlen, dann ist es sinnvoller, einige Schulden aus den Büchern zu streichen und neu anzufangen – so wie es jeder US-Amerikaner tut, der Bankrott anmeldet.

Argentinien hat im Dezember 2001 den Schuldendienst eingestellt. Die Regierung verhandelte hart mit den ausländischen Gläubigern und dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der sie dazu bringen wollte, den Anlegern mehr Geld zu bezahlen und orthodoxen makroökonomischen Rezepten zu folgen. Die Argentinier sollten recht behalten. Die Wirtschaft schwächelte nach dem Zahlungsstopp nur für ungefähr drei Monate. Seither ist sie jährlich um über acht Prozent gewachsen. Mehr als acht Millionen der 36 Millionen Einwohner des Landes sind seither aus der Armut herausgekommen. Präsident Nestor Kirchner hat diese Politik recht leise und außerhalb des internationalen Rampenlichts verfolgt. Die Art, mit der er Argentinien aus der Depression von 1998 bis 2002 geführt hat, ist vergleichbar mit der des US-Präsident Franklin D. Roosevelt während der großen Depression der 30er-Jahre. Und genau wie Roosevelt musste auch Kirchner die Ratschläge der Mehrheit der Ökonomen zurückweisen und machtvollen Interessen – etwa ausländischer Anleger, des IWF oder der Weltbank – widerstehen, um das zu tun, was für das Land am besten war. Ein stabiler und konkurrenzfähiger Wechselkurs, vernünftige Zinssätze und unorthodoxe Maßnahmen zur Inflationskontrolle waren Politikansätze, die Argentinien brauchte, um die bemerkenswerte wirtschaftliche Erholung zu erreichen, die bereits seit fünf Jahren andauert.

Venezuelas Hugo Chávez ist ein streitlustigerer Führer – und seine Wirtschaftspolitik funktioniert. 2006 wird das zweite Jahr in Folge mit zehn Prozent Wachstum sein, das höchste in der Region. 2004 waren es satte 17,8 Prozent. Um das Land auf einen soliden Wachstumspfad zu bringen, musste die Regierung das nationale Ölunternehmen PDVSA unter ihre Kontrolle bringen, das rund die Hälfte der Staatseinnahmen und etwa 80 Prozent der Exporteinnahmen erwirtschaftet. Die Opposition leistete entschlossenen Widerstand, einschließlich eines US-unterstützten Militärputsches und eines Streiks der Ölindustrie 2002–2003, der der Wirtschaft schweren Schaden zufügte. Aber seit die Regierung in dieser Auseinandersetzung die Oberhand behielt, konnte sie nicht nur hohe Wachstumsraten garantieren, sondern zudem Sozialprogramme ausbauen einschließlich kostenloser Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittelsubventionen und Zugang zu Bildung für die Armen. Oft wird behauptet, all das sei nur ein Ölboom, der zusammenbrechen werde, wenn die Ölpreise fallen. Tatsächlich hat die Regierung Chávez vorsichtige Haushalte aufgestellt, die die Ölpreise nur etwa bei der Hälfte des heutigen Preises ansetzen.

Die Regierungen Argentiniens und Venezuelas transformieren nicht nur ihre eigenen Länder, sondern auch die Region, weil sie die Kontrolle des IWF über die Kreditvergabe gebrochen haben. Noch vor wenigen Jahren wären einem Land, das IWF-Auflagen nicht einhält, nicht nur Kredite des Fonds selbst, sondern auch der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank, der G-7-Regierungen und des Privatsektors verweigert worden. Das war das US-Hauptinstrument zur Einflussnahme in der Region und spielte eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung der Wirtschaftsreformen der letzten 25 Jahre: höhere Zinssätze, engere Haushalte, Privatisierung, unkontrollierte Liberalisierung internationaler Handels- und Kapitalströme und die Aufgabe von Entwicklungsstrategien. Für Argentinien, Bolivien, Ecuador und andere Länder bietet Venezuela heute Kredite ohne wirtschaftspolitische Bedingungen.

Die Auflösung des IWF-Kreditkartells ist die wichtigste Veränderung im internationalen Finanzsystem seit dem Zusammenbruch des „Bretton-Woods“-Systems festgelegter Wechselkurse im Jahre 1973. Nun können auch arme Länder wie Bolivien Millionen von Dollar zusätzlicher Einnahmen aus Rohstoffen wie Erdgas ziehen – und sie dazu benutzen, ihre eigenen Vorschläge für die Armen der Region in die Tat umzusetzen.

Innenpolitisch hat Brasiliens Präsident Lula da Silva die neoliberale Politik seines Vorgängers fortgesetzt – samt daraus folgendem langsamem Wirtschaftswachstum. International aber ist er als team player aufgetreten, der in Allianz mit Argentinien und Venezuela bereits Washingtons Vorschlag einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) beerdigt hat und auf stärkere regionale Kooperation setzt.

Lateinamerika hat ganz klar einen Kurswechsel zu einer neuen Wirtschaftspolitik vollzogen – wie es scheint mit überwiegend positiven Ergebnissen. Nach 26 Jahren des langsamsten Wirtschaftswachstums in mehr als einem Jahrhundert wäre es allerdings auch schwierig für die neuen Führungsfiguren, es noch schlechter zu machen als ihre Vorgänger.

Mark Weisbrot ist Kodirektor des Center for Economic and Policy Research in Washington DC (www.cepr.net)