: „Das Amt schickt Mädchen weg“
Seine Notaufnahme musste das Bremer Mädchenhaus schließen, doch die Beratungsstelle ist noch geöffnet. Dort spricht Jutta Diederichs mit Mädchen, die das Jugendamt nicht für hilfebedürftig hält
Interview: Eiken Bruhn
taz: Eine Einrichtung nur für Mädchen – ist das in diesen Zeiten nicht Luxus?
Jutta Diederichs, Beraterin im Mädchenhaus: Diesen Vorwurf haben wir zum Glück lange nicht mehr gehört. Es ist offenbar Konsens, dass man Hilfe anbieten muss, die auch angenommen wird. Dazu muss sie zugeschnitten sein auf die Bedürfnisse von Jugendlichen. Die Unterteilung Jungen und Mädchen ist dabei aber nur eine unter vielen.
Woher wissen Sie, dass Ihr Angebot gewollt wird?
Das lässt sich ganz einfach an den Zahlen sehen, unsere Beratungsangebote sind voll ausgelastet. Außerdem sagen uns die Mädchen selbst, dass sie froh sind, wenn sie unter sich sind und mit Frauen reden können. Männern würden sich viele nicht öffnen, gerade wenn es um Gewalt geht – die zu 95 Prozent von Jungs und Männern ausgeht – oder um Themen, die mit dem eigenen Körper zu tun haben, wie Essstörungen und Selbstverletzungen. Und umgekehrt brauchen Jungen auch Männer.
Welche Hilfe suchen die Mädchen bei Ihnen?
Das fängt bei Kleinigkeiten an wie „Ich kann nicht in Ruhe Hausaufgaben machen“. Meistens stellt sich aber heraus, dass mehr dahintersteckt, mit dem die Mädchen erst später herausrücken. Zum Beispiel, dass die Eltern Alkoholiker sind und sie deshalb nichts für die Schule tun können. Dass ein Mädchen gleich sagt, worum es zu Hause geht, ist sehr selten, das hat ja auch etwas mit Vertrauen zu tun.
Und wie finden Sie heraus, weswegen ein Mädchen eigentlich kommt?
Wir nehmen uns die Zeit, die sie braucht. Das kann auch mal ganz schnell gehen, da ist in einer Stunde alles klar. Schwierig wird es immer dann, wenn die Mädchen sich ans Jugendamt wenden. Die werden häufig wieder weggeschickt mit der Begründung, „das ist doch alles halb so wild“ oder „nur noch zwei Jahre, dann bist du achtzehn“. Das haben wir jetzt schon von einigen Mädchen gehört, die aus ihrer Familie herauswollten.
Vielleicht ist es ja wirklich nicht so schlimm…
Nein. Ein Mädchen, das zu uns kommt, braucht Hilfe, sonst wäre sie nicht hier. Was uns immer wieder schockiert, ist, was Mädchen alles aushalten, bevor sie Hilfe suchen. Einige sind ganz überrascht, wenn wir ihnen sagen, dass ihre Eltern sie nicht beschimpfen, demütigen und schlagen dürfen, dass sie ein Recht darauf haben, regelmäßig etwas zu essen zu bekommen, dass niemand sie einsperren darf und dass es nicht in Ordnung ist, wenn die Mutter ihnen sagt, sie soll für den Vater kochen, weil sie selbst nichts mehr mit ihm zu tun haben will.
Und das Jugendamt sagt, dass sie das aushalten müssen?
Nein. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Jugendamt haben das Problem, dass sie ein Arbeitspensum erledigen müssen, das nicht zu bewältigen ist. Wenn die dann ein Mädchen vor sich haben, das eben noch nicht am Bahnhof sitzt, dann ist ihre Situation relativ betrachtet „nicht so schlimm“. Für uns ist aber wichtig, dass diese Mädchen, die rechtzeitig kommen, bevor sie abrutschen, nicht dafür bestraft werden, sondern dass man sie ernst nimmt. Man kann nicht oft genug sagen, dass sich das auch finanziell lohnt, weil keine Folgekosten entstehen, zum Beispiel für Klinikaufenthalte.
Wie reagieren die Mädchen, wenn ihnen gesagt wird, ihre Situation sei nicht so schlimm?
Das ist ja das fatale. Mädchen denken selbst immer, „das wird schon“. Die gestehen sich oft erst ein, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn sie es bei sich selbst, am eigenen Körper spüren. Wenn sie anfangen sich selbst zu verletzen oder Essen auskotzen. Wenn Sie denen sagen, „halb so wild“, glauben die das sofort und kommen nie wieder.
Aber dann können Sie doch dem Jugendamt den Ernst der Lage klarmachen.
Das machen wir ja auch. Vom Jugendamt höre ich oft, „ja, so wie Sie das sagen, kann ich das nachvollziehen“. Neulich hatte ich eine Fünfzehnjährige mit einer alkoholkranken Mutter, die von sich aus gesagt hat, „ich muss zu Hause raus“. Die musste immer wieder zum Jugendamt, bis die endlich einen unangekündigten Hausbesuch gemacht haben. Dann war auch schnell klar, dass es wirklich nicht mehr anders geht, die Mutter war volltrunken. Vorher haben sie die Mutter angerufen und dem Mädchen gesagt, „die klingt doch ganz in Ordnung“. Zum Glück war sie selbstbewusst genug, um trotzdem immer wieder zu kommen. Sie ist auch am Ende selbst zum Familiengericht gegangen, damit ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen wird.
Warum haben es Mädchen so schwer, sich Gehör zu verschaffen?
Weil sie Überlebensstrategien entwickelt haben, die ihnen im Notfall im Weg stehen. Die einen werden in der Fachliteratur „die Heldinnen“ genannt. Die haben überlebt, weil sie sich um alles selbst kümmern. Die sind sozial sehr kompetent, und man merkt ihnen nicht an, dass sie hilfebedürftig sind. Manche sind sogar Schülersprecherinnen. Wenn denen angeboten wird, „komm, wir probieren es noch mal mit einer Familienhelferin“, dann nehmen die das sofort an.
Und die anderen?
Das sind die Rotzigen, die gelernt haben zu mauern. Früher waren das auch mal kleine, weinende Kinder, die leichter unser Mitleid erweckt hätten, jetzt sind sie zum Teil unsympathische Hardcoremädels, die beim zweiten Mal etwas anderes erzählen als beim ersten. Die haben das Gefühl, die müssen immer noch einen drauf setzen, damit ihnen geglaubt wird. Dadurch machen sie sich natürlich nicht besonders glaubwürdig. Ich erwarte aber von professionellen Helfern und Helferinnen, dass sie diese beiden Verhaltensweisen als Symptome erkennen.
Im Mai musste das Mädchenhaus aus finanziellen Gründen seine Notaufnahme schließen. Wo schicken Sie die Mädchen hin, die sich bei Ihnen oder beim Mädchennotruf melden?
Zu den anderen Notaufnahmen in Bremen. Wir wissen aber, dass nicht alle dort ankommen.
Woran liegt das?
Wir vermuten, dass es für Mädchen eine Überforderung ist, mehrmals um Hilfe bitten zu müssen. Wenn es um eine Inobhutnahme geht, wenn eine Jugendliche sagt, sie kann nicht zu Hause bleiben, dann muss bei der ersten Kontaktaufnahme gehandelt werden. Das heißt, dass man immer erreichbar sein muss, um sofort reagieren zu können. Wir konnten auch nachts um drei sagen: „Wir treffen uns in einer halben Stunde.“
Wann werden Sie die Notaufnahme wieder eröffnen?
Wir wünschen uns eine Wiedereröffnung zum 1. Februar und arbeiten daran. Aber die Bedingungen sind immer noch nicht geklärt. Da stehen noch Verhandlungen mit der Stadt aus.