Weihnachtsritual Kinderfernsehen

Weihnachten zu Hause, in Lübeck und Bad Segeberg. Ohne Karl May, dafür mit dem „Herrn der Ringe“, den Smith’ und Würstchen mit Kartoffelsalat. Alles ganz entspannt. Noch entspannter hätte dann wohl Reanimation bedeutet

In Bad Segeberg ist es viel stiller als in Berlin. Seltsam auch, dass es tatsächlich schneit. Als ich H. erzählt hatte, dass ich eine Weile in meiner Heimatstadt verbringen würde, hatte sie gelacht. Sie fand es witzig, dass ich aus der schleswig-holsteinischen Kleinstadt komme. Karl-May-Festspiele: hahaha. Wie einem ja oft alle möglichen Städtenamen witzig vorkommen.

Mit dem Bus war ich jedenfalls über die Dörfer gefahren und hatte Weihnachten wie immer mit der Familie meiner großen Schwester in Lübeck verbracht. Meine Mutter kam aus der Klinik. Wir waren ein bisschen nervös gewesen, hatten zwischendurch manchmal eine Zigarette im Garten geraucht und gesagt, es laufe ja alles ganz gut.

In Lübeck gibt es eine Straße, die Fegefeuer heißt, eine andere heißt Paradiesgarten. Wir hatten die üblichen Weihnachtslieder gesungen; mein Bruder hatte eine Geschichte von Simone Borowiak vorgelesen. Meine Mutter hatte aufgeregt geredet. Dann hatten wir Kartoffelsalat mit Würstchen gegessen. Später spielten wir, und am nächsten Morgen gab’s Kinderfernsehen.

Kinderfernsehen am frühen Morgen im Bett ist ein wichtiges Weihnachtsritual. Der Held der Geschichte hieß, glaube ich, Petterson. Im letzten Jahr hatte es charmanten französischen Zeichentrick gegeben. Als Junggeselle ist man zu Weihnachten immer in der Position des Eingeladenen. Älterwerdend fühlt man sich irgendwie immer mehr wie ein komischer Onkel. Außerdem lese ich die FR zu Weihnachten immer ganz durch. Die Zahl psychischer Erkrankungen hat sich in den letzten dreißig Jahren verfünffacht in Deutschland. Der Mineralwasserverbrauch hat sich verzehnfacht. Ich hatte meiner Schwester und meinem Schwager eine CD von den Smith’ geschenkt und völlig vergessen, dass ich sie ihnen vor zwanzig Jahren schon mal als LP geschenkt hatte.

Erstaunlich, wie angenehm es ist, zu lesen, wenn fünf Leute und ein Weihnachtsbaum in einem Zimmer sind. In Berlin hatte ich mich ein bisschen vor den kleinen Zimmern gefürchtet; hier verstand ich nicht mehr, wie man sich in diesen viel zu hohen Berliner Altbauzimmern wohl fühlen kann. Dann hatten wir zusammen gesessen und den „Herrn der Ringe“ geguckt. Eigentlich geht es da auch viel um Sucht und Drogen; um leichte, wie das Kraut der Hobbits, das Gandalf so gern raucht, und um stärkere.

Meine Nichte kannte Tolkien ganz gut. So hatten wir etwas Gemeinsames. Meine Schwester war wie ich Ende der 70er oft im „Auenland“ gewesen; einer alternativen, auch haschorientierten Diskothek auf dem Lande Richtung Hamburg. Jahresendzeittypisch kam das Früher oft vorbei. Dann war ich wieder in Segeberg; im Haus meiner Eltern, das ein halbes Jahr leer gewesen ist. Ich wärmte es für meine Mutter auf, die noch vor Jahresende aus der Klinik rauskommen sollte. Nachts ächzte das Haus wie ein altes Schiff. Manchmal schwangen die Metallstangen, die die Treppe hielten; manchmal klang es wie Schritte. Der Geist meines Vaters rumorte wohl im Keller. Gleich würde er hochkommen und „huh“ machen, weil ich so viel rauchte. Die meisten Toten sind aber, glaube ich, friedfertig.

Immer, wenn ich irgendwo bin, kann ich mir nicht vorstellen, woanders zu sein. Vielleicht will ich’s auch nicht. Deshalb bleibe ich meist, wo ich gerade bin. Trotzdem komisch, zum ersten Mal seit mehr als zwanzig Jahren zwischen den Jahren nicht in Berlin zu sein.

Als ich in Berlin noch schnell einkaufen war, hatte die Kassiererin „Sie wirken so angespannt“ zu dem kräftigen Mann mit den langen weißen Haaren gesagt, der früher sicher Haschrebell gewesen ist. „Nein, nein. Ich bin ganz ruhig“, hatte er geantwortet: „Wenn ich noch entspannter wäre, müssten Sie mich reanimieren.“ DETLEF KUHLBRODT