: Alle Macht den Milizen
Somalias Islamisten geben die Macht in Mogadischu auf. Kommen die lokalen Clans oder die Übergangsregierung?
von DOMINIC JOHNSON
Alles ist wieder wie früher. Unberechenbare Milizionäre beherrschen die Straßen, es gibt keine sichtbare politische Autorität. Somalias Hauptstadt Mogadischu erwachte gestern in einem Machtvakuum, nachdem die seit Juni herrschenden Islamisten der Scharia-Gerichte verkündet hatten, sie hätten die Macht in der Zwei-Millionen-Stadt „dem Volk übergeben“. Die Truppen der somalischen „Übergangsregierung“, die im Schatten äthiopischer Panzer bis an die Tore der Hauptstadt vorgerückt waren, füllten das Machtvakuum nur zögerlich.
Am Nachmittag meldete somalischer Rundfunk erstmals, Kolonnen äthiopischer Militärfahrzeuge seien unterwegs in die Stadt. Aus einigen Vierteln wurde berichtet, jubelnde Menschen würden Blumen auf einmarschierende Kämpfer der Übergangsregierung werfen. Anderswo war von Machtkämpfen die Rede. „Zum ersten Mal seit Juli bewege ich mich mit bewaffneten Wachleuten“, berichtete Ali Imaan Sharmarke vom unabhängigen Radiosender HornAfrik. Mogadischu befinde sich „am Rande der Rückkehr zur Situation der Neunzigerjahre, als unkontrollierte Milizen auf den Straßen marodierten“.
In der Nacht hatte Sheikh Sharif Ahmed, Vorsitzender des regierenden „Somalischen Rates Islamischer Gerichte“ (SICC), in Mogadischu das Ende seiner Herrschaft erklärt. „Wir haben alle Führer und Mitglieder aus der Hauptstadt abgezogen“, sagte er dem TV-Sender al-Jazeera. „Die Äthiopier wollen Mogadischu bombardieren, also haben wir uns zurückgezogen, um ihnen nicht diese Chance zu geben. Mogadischu ist in einem Zustand der Unordnung. Banden mit Unterstützung von Äthiopien und Baidoa haben begonnen, zu stehlen.“
Lokalen Berichten zufolge hatten sich die Führer der Islamischen Gerichte in Mogadischu am Mittwochabend mit den traditionellen Clanführern der Hauptstadt getroffen. Diese hätten erklärt, sie könnten die Islamisten angesichts der Übermacht der Gegenseite nicht mehr unterstützen. Damit war die Machtbasis der Islamisten dahin – die traditionellen Clans hatten in den letzten Jahren den Scharia-Gerichten durch ihre Unterstützung erst Legitimität gegeben. Die SICC-Milizionäre, heißt es weiter, übergaben ihre Waffen und Fahrzeuge den Clans und zogen ihre Uniformen aus. Wo die Islamistenführer sich aufhalten, ist nicht bekannt.
Die von Äthiopien gestützte Übergangsregierung von Baidoa hofft nun, dass die Clanführer Mogadischu friedlich an sie weitergeben. „Wir stehen in ständigem Kontakt mit Ältesten und zivilgesellschaftlichen Gruppen, damit es einen reibungslosen und friedlichen Übergang gibt“, sagte gestern Regierungssprecher Abdirahman Dinari.
Zunächst jedoch hinterlässt die freiwillige Selbstzerlegung der islamistischen Machtstruktur Mogadischu den Clanführern. Deren Milizen formierten sich und begannen, ihre jeweiligen Stadtviertel mit Straßensperren zu sichern. Bereits in der Nacht waren überall in Mogadischu Schüsse zu hören. Die Clans fürchten die Einnahme der Stadt durch die Truppen der Baidoa-Übergangsregierung, die von ihren historischen Feinden dominiert wird. „Jeder Clan versucht, sich wiederzubewaffnen und Waffen zurückzuholen, die die Islamisten ihnen einst abgenommen haben, in Erwartung einer Rückkehr der Warlords“, sagte Hassan Mahamud Ahmed, Chefredakteur der Zeitung San’aa. In ersten Berichten war allein im Viertel Yaqshiid im Norden Mogadischus von 13 Toten die Rede. Eine Miliz verkündete, sie habe den Flughafen übernommen.
Die bizarrste Nachricht des Tages betraf die Ruine von Somalias Präsidentenpalast. Am späten Vormittag meldete die Miliz SNA (Somalische Nationalallianz), sie habe sich dort eingerichtet und werde nun die Übergangsregierung in der Hauptstadt willkommen heißen. Führer der SNA ist Hussein Mohammed Aidid, ein Minister in der Baidoa-Regierung. Sein Vater, der verstorbene Warlord Farah Aidid, hatte 1993 die US-Armee aus Mogadischu verjagt. Eine Machtergreifung des Sohnes von Somalias größtem US-Feind wäre ein paradoxes Ergebnis eines Militärschlages, den außer den USA kaum jemand auf der Welt gutheißen mag.