: Europa, ernüchtert
VON SABINE HERRE UND DANIELA WEINGÄRTNER
An einem Abend Mitte Dezember rannten die Bürger Brüssels zum Schloss ihres Königs. Sie waren erleichtert zu sehen, dass die königliche Fahne noch an ihrem Platz hing. Denn das französischsprachige belgische Fernsehen RTBF hatte kurz zuvor sein Programm unterbrochen für eine Eilmeldung: Flandern, der holländisch sprechende Norden des Königreichs, habe seine Unabhängigkeit erklärt. König Albert II. und Königin Paola seien in den Kongo evakuiert worden.
Nicht alle Zuschauer gratulierten RTBF zu diesem Realoschocker. Die meisten waren sogar zornig: Sie hatten eine Teilung ihres Landes tatsächlich für möglich gehalten. Das heißt auch: An der Frage, wie er zu seinem Land steht, kommt heute kein Belgier mehr vorbei.
Belgien bildet im Kleinen all das ab, was auch die Europäische Union so kompliziert macht: sich überschneidende Kompetenzen, unübersichtliche politische Strukturen, in Ahnungslosigkeit nebeneinander existierende politische Öffentlichkeiten. Aber auch kulturelle Vielfalt, den Luxus des Überflüssigen, die aus der Vielsprachigkeit hervorgehende Entschleunigung. Wenn Belgien es schafft, schafft es auch Europa, schreiben EU-Korrespondenten nach ein paar Jahren in der chaotisch-skurrilen Metropole Brüssel immer wieder gerne. Tatsächlich könnte es sein, dass es Belgien nicht schafft. Und Europa?
In Berlin sind Podiumsdiskussionen über die EU derzeit so häufig wie Kochsendungen im Fernsehen. Nach sieben Jahren übernimmt das größte Mitgliedsland erneut die Führung der EU – und die Erwartungen sind, vor allem im Ausland, hoch. Deutsche Politiker dagegen zeigen sich eher zurückhaltend, ja fast mutlos. Joachim Würmeling, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, gesteht durchaus ein, dass der Präsidentschaft bisher der rote Faden fehlt. Als Anfang Dezember rund 70 EU-Experten im Auswärtigen Amt zusammenkamen, um über Angela Merkels EU-Programm zu diskutieren, dauerte es Minuten, bis überhaupt eine Frage gestellt wurde. „Ich kann es einfach nicht mehr hören“, fasste eine ehemalige grüne Europaabgeordnete die Stimmung zusammen. „Überall nur Lähmung, Stillstand.“
Natürlich würden die gleichen Experten bestreiten, dass sich die EU in der bisher tiefsten Krise ihrer Geschichte befindet. Europa hatte immer seine Probleme – und es hat sie immer überwunden, lautet die Standardantwort. Und doch: Diesmal ist etwas anders.
Dies hängt – paradoxerweise – mit einer eigentlich positiven Entscheidung der 25 Staats- und Regierungschefs zusammen. Anders als bei der Ablehnung der Verträge von Maastricht und Nizza durch Dänen und Iren beschlossen sie, nach dem non der Franzosen zur EU-Verfassung nicht einfach weiterzumachen wie bisher. Vielmehr wollte man den Bürgern zuhören, ihre EU-Erwartungen erkunden.
Doch 18 Monate später ist klar, dass die sogenannte Denkpause nichts gebracht hat. Nicht weil man, wie ein inzwischen übermäßig strapazierter Scherz heißt, eine Pause vom statt zum Denken eingelegt hätte. Sondern weil die gewünschte Debatte über die Zukunft Europas nicht stattgefunden hat. Die Bürger haben nicht teilgenommen. Eine EU ohne Europäer – sieht so das Ende des europäischen Traums aus? Oder ist es vielmehr an der Zeit sich ein paar unangenehmen Tatsachen zu stellen?
Die EU wird immer ein Projekt der Eliten bleiben. Darüber muss man sich nicht grämen.
Europa ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Früher sicherte die EU den Frieden, heute die Rentenzahlung auf Mallorca. Reisen, studieren, konsumieren – das alles gewährleistet das Dienstleistungsunternehmen EU. Wie diese Dienstleistungen aber zustande kommen, interessiert die Menschen weniger. Rat, Kommission, Parlament: Wer weiß schon, wer was entscheidet. Auch öffentliche Sitzungen der Minister und noch so viele Kommissionspapiere im Internet können daran nichts ändern. Wer immer noch glaubt, man könnte die Entscheidungsabläufe in der EU durchschaubarer machen, sollte einfach mal einen Richtlinienentwurf der Kommission lesen – und diesen dann kurz zu erklären versuchen. Der Versuch ist zum Scheitern verurteilt – das kann in einer Gemeinschaft von bald 30 Staaten auch gar nicht anders ein. Und doch ist es unnötig, sich darüber zu grämen. Welcher Bundesbürger begreift schon, wie der deutsche Föderalismus funktioniert?
Die Macht Brüssels wird immer weiter wachsen. Und das ist gut so.
Auch wenn die Abgeordneten des Bundestags – und viele Berliner Journalisten – es nicht wahrhaben wollen: Ihr Einfluss wird immer geringer. Bis zu 80 Prozent der Umweltgesetzgebung kommt aus Brüssel. Die europäische Außenpolitik machen die Regierungen zusammen, nach Annahme der Verfassung wird auch die Innenpolitik von der europäischen Ebene bestimmt werden. Was den nationalen Parlamenten vorerst bleibt, sind Steuern, Soziales und Kultur. Aber auch hier sind die Bestrebungen, endlich europäisch zu agieren, groß. Die Bundestagsabgeordneten können also in Zukunft noch häufiger als bisher die Verantwortung für bestimmte Entwicklungen auf Brüssel schieben. Ihre Machtlosigkeit wird dadurch nur noch deutlicher werden.
Die Politiker in den EU-Staaten sollten endlich mit einer großen Lüge aufräumen: der Lüge von der Subsidiarität. Die Forderung diverser Lokalpolitiker, Kompetenzen von der EU auf die nationale Ebene zurückzuholen, ist sinnlos. Tatsächlich passiert genau das Gegenteil. Bei jedem nationalen Problem, für das man keine Lösung findet, wird nach einer europäischen Antwort gerufen. Der Machtzuwachs Brüssels ist kein Ergebnis einer regulierungssüchtigen EU-Kommission, sondern praktische Notwendigkeit.
Gebt es endlich zu: Die EU hat kein gemeinsames Ziel.
Am 25. März, dem 50. Jahrestag der Römischen Verträge, wird einmal mehr die europäische Einigung beschworen werden. Doch worin sind sich die 27 Staaten eigentlich einig? Den einen reicht der Binnenmarkt, die anderen hätten gern eine gemeinsame EU-Armee dazu. Die dritten lehnen dies ab – und fordern stattdessen eine Wirtschaftsregierung inklusive einer europaweiten Angleichung der Unternehmenssteuern. Manche wollen die EU bis zum Kaukasus erweitern – und manche fordern mehr Integration.
Solange die EU nur aus sechs, zwölf, 15 Mitgliedern bestand, war es noch möglich, alle Interessen unter einen Hut zu bekommen. Doch mit 25, 27 und bald 32 oder 33 werden die europäischen Kompromisse immer schwieriger – und damit schlechter. Vielleicht war die Verfassung der letzte gute Kompromiss Europas.
Daher ist es an der Zeit, endlich die Karten auf den Tisch zu legen. Es hat keinen Sinn, weiterhin so zu tun, als wollten alle das Gleiche. Und es ist an der Zeit, diejenigen, die mehr möchten, dies auch tun zu lassen. Seit mehr als zehn Jahren wird in der EU diskutiert, eine Gruppe besonders integrationswilliger Staaten zu bilden, die den anderen „voranschreitet“. Diese Avantgarde braucht Europa jetzt – doch sie könnte nicht ausreichen. Man sollte zumindest über die Möglichkeit nachdenken, Staaten, die die Integration der EU ständig blockieren, aus der Union auszuschließen.
Europas Politiker machen keine europäische Politik. Daher kann auch Angela Merkel die EU nicht retten.
Angela Merkel steht als Ratspräsidentin ziemlich alleine da. Denn mit wem soll sie Europa voranbringen? Tony Blair und Jacques Chirac stehen kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit. Romano Prodi ist vollauf damit beschäftigt, seine linke Koalition zusammenzuhalten. Tschechien, Österreich und die Niederlande haben zurzeit keine Regierungen. Polen hat die Kazcynski-Brüder.
Und: Auch die EU-Kommission ist schwach. Vor lauter Angst, ihr schlechtes Image eines alles regulierenden Molochs noch weiter zu verschlechtern, traut sie sich nicht mehr, neue Gesetze auf den Weg zu bringen. Schlimmer noch ist: Selbst unter der Präsidentschaft von proeuropäischen Ländern wie Luxemburg oder Finnland bewegte sich die EU kaum von der Stelle.
Nun also ist Deutschland an der Reihe. Natürlich wird Angela Merkel in den kommenden sechs Monaten alles versuchen, um zumindest ein paar Erfolge zu erzielen. Tatsächlich jedoch herrscht auch in Berlin nicht eitel EU-Sonnenschein. Besuche in Ministerien zeigen eine überraschend europaskeptische Stimmung – und die Liste der Konflikte zwischen Bundesregierung und EU-Kommission ist lang.
Natürlich kann man den Mangel an überzeugten Europäern unter den europäischen Politikern für ein momentanes Problem halten – und nicht für ein strukturelles. Doch der Moment dauert schon ziemlich lang. 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 17 Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs scheinen führende Politiker der EU immer weniger zu wissen, wofür sie gut ist. Es gibt immer mehr Probleme, die sich nicht national lösen lassen – und immer weniger Bereitschaft, diese Lösung auf EU-Ebene zu suchen.
Vielleicht braucht die EU einen Realoschocker nach belgischem Vorbild. Etwa einen „Gaskrieg“: Ein Sabotageakt an der neuen Gaspipeline durch die Ostsee führt die deutsch-polnischen Beziehungen in die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Russland verdächtigt polnische Provokateure und kappt die Energiezufuhr zu dem ehemaligen Satellitenstaat. An der deutsch-polnischen Grenze drängen sich frierende Menschen, die sich nach Westen durchzuschlagen versuchen … Allzu abwegig ist dieses Szenario angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen Gazprom und Weißrussland gar nicht. Und so könnte vielen schneller, als sie denken, wieder klar werden, warum die EU eigentlich doch ganz nützlich ist.