: Im Land der einsamen Großstadtwölfe
Traurige und sensible Aussteiger, Geschichten von der dunklen Seite des Mondes: neue Romane und Erzählungen aus Japan von Hitomi Kanehara, Ryu Murakami, Hitonari Tsuji. Geschildert wird ein verunsichertes Land. Als Chef im Ring erweist sich dabei wieder einmal der Altmeister Haruki Murakami
VON SUSANNE MESSMER
Japan, das verunsicherte Land. Seit Jahren hört man, wie dort in der Mittelschicht die Existenzangst umgeht, wie die Einkommen der Normalverdiener stagnieren und sinken, wie die Gesellschaft vergreist. Die Statistiken melden immer mehr Scheidungen, Selbstmorde, Arbeitslose. Die Jahre, in denen die japanische Gesellschaft von überdisziplinierten Marktteilnehmern und Lohnabhängigen am Laufen gehalten wurde wie das gut geölte Hamsterrad, in denen man sich mit Tamagotchis und Konversations-Robotern abspeisen ließ – diese Jahre scheinen endgültig vorbei zu sein.
Fette Zeiten also für Erzählungen von den Rändern, von der lichtlosen Seite des Mondes – so, wie das in allen Umbruchphasen in allen Gesellschaften der Welt der Fall war und ist. Das japanische Kino glänzt mit den melancholischsten Filmen seit je, und in den Büchern der Kultautoren Haruki Murakami und Banana Yoshimoto lässt sich ihre zahlreiche Leserschaft auch außerhalb Japans von traurigen, vereisten und erstarrten, von egozentrischen und sensiblen Aussteigern becircen, die nichts zu tun haben wollen mit dem markigen Konsumzwang und Leistungsdruck um sie herum. Sie hören lieber Popmusik, telefonieren und kochen sich Spaghetti. Und oft wirft sie dann etwas sehr Sonderbares aus der Bahn.
Nun reagiert auch die deutsche Verlagslandschaft endlich. Murakami und Yoshimoto haben es auch hierzulande immer wieder in die Bestellerlisten geschafft – warum also nicht auch mal andere japanische Autoren für junge Leser zugänglich machen? So also kommt es, dass sich erstmals seit Jahren auf dem Nachttisch nicht nur der neueste Murakami breitmacht, sondern dass man sich gerade in diesen finstersten Tagen des Jahres auf drei weitere Bücher von bislang kaum bekannten Autoren aus Japan freuen kann. Man lässt ihn also ausnahmsweise zunächst liegen, den Band „Blinde Weide, schlafende Frau“ mit alten und neuen Geschichten von Haruki Murakami, diesem vielgeliebten Zauberer, der übrigens inzwischen auch schon schwungvoll auf die Sechzig zugeht – und schon handelt man sich den ersten Dämpfer ein.
Dabei beginnt alles so vielversprechend. Es heißt, der japanische Autor Hitonari Tsuji, der zehn Jahre jünger ist als Haruki Murakami, sei in Japan nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Rocksänger, Filmemacher und Fotograf ein Idol. „Warten auf die Sonne“, das erste seiner Bücher, das auf Deutsch erschienen ist, setzt in der verführerischen Szenerie eines Filmsets ein. Der alte Regisseur Hajime Inoe dreht seinen letzten Film und wartet auf genau den richtigen Einfallswinkel der Sonne. Recht angetan lässt man sich also in die Sorgen und Nöte des etwas blassen, aber sympathischen Filmdekorateurs Shiro reißen, wie er sich schüchtern um die Regieassistentin Tomoko bemüht und wie er seinen Bruder im Krankenhaus besucht, den Drogendealer Jiro, der sich mit den Yakuza einließ, angeschossen wurde, im Koma liegt und bald sterben wird. Sehr bestrickend findet man anfangs den Kontrast zwischen den sorgfältigen Beschreibungen der monotonen Anstricharbeiten Shiros am Set und der Geschichte Jiros oder den Erinnerungen Hajime Inoues an die Kriegsverbrechen der Japaner in China vor einem halben Jahrhundert.
Je mehr sich allerdings die Träume und Erinnerungen zu einem dicken Erzählteppich verdichten und die Gegenwart verhängen, desto mehr fühlt man sich an einen der besten Romane Haruki Murakamis, an „Mister Aufziehvogel“, erinnert. Wie in diesem sind auch bei Hitonari Tsuji die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit auf großzügige Art durchlässig. Wie bei Murakami geht es auch in „Warten auf die Sonne“ immer wieder um die Rolle Japans im Krieg – eine Vergangenheit, die man dort bis heute fleißig verdrängt.
Das Problem ist: Wir Leser haben dies alles nicht nur schon gelesen, wir haben es auch schon besser gelesen. Das Anliegen dieses Autors ist hehr, die Suggestionskraft seiner Geschichte kann sich aber nicht mit der Murakamis messen, weil er die Geschichte des sympathischen Kulissenmalers, seine Liebe, seine kleinen Sorgen, seinen gewöhnlichen Alltag und seine beschwerliche Arbeit aus den Augen verliert.
Also weitergelesen und gleich vorweg gewarnt: Verglichen mit Hitonari Tsujis „Warten auf die Sonne“ handelt es sich bei den Büchern von Ryu Murakami und Hitomi Kanehara um literarische Fertigtütensuppen – zwei, drei nette Einlagen, viel zu schnell vorbei, kaum Sättigungsgefühl. Der einzige Erkenntnisgewinn, der so neu nun auch nicht ist: Japans Jugend, die diese Bücher ebenso bevölkert wie liest, leidet unter Desorientierung, spielt gern mit Grenzerfahrung und Kontrollverlust und freut sich am meisten, wenn die Ereignisse so extrem werden, dass sie das Gegenteil des gewünschten Effektes erzielen und keine Abdrücke mehr im Bewusstsein hinterlassen können.
Das heißt, die Erlebnisse müssen so schrullig wie möglich sein. „In der Misosuppe“, das dritte Buch des Autors Ryu Murakami, das ins Deutsche übertragen wurde, wird aus der Sicht eines 20-jährigen Touristenführers durch Tokios Rotlichtmilieu erzählt, der, ähnlich wie die Helden von Haruki Murakami, nur bescheidene Bedürfnisse pflegt wie etwa ein hübsches Apartment, Musik und Bücher. Eines Tages gerät Kenji allerdings an den falschen Kunden. Im Eiltempo entpuppt sich dieser als routinierter Massenmörder, der schon als Siebenjähriger Menschen getötet hat. Plötzlich wähnt man sich im schönsten Splatter und weiß wieder, mit wem man es zu tun hat: Ryu Murakami ist in Deutschland vor allem für die Verfilmung seines Horrorromans „Audition“ bekannt.
Auf dem Höhepunkt des Romans, über 14 lange Seiten hinweg, öffnet Frank in aller Seelenruhe in einem fort die Kehlen diverser Prostituierter und Barkeeper, er schneidet Ohren ab, sticht Augen aus, bricht Genicke. Das „Knirschen“, „Zischen“ und „Knacken“ will gar kein Ende nehmen. Und auch wenn der Roman immer wieder mit durchsichtiger Handlungsführung und moralinsauren Urteilsverkündungen über die Verkommenheit der japanischen Wohlstandsgesellschaft langweilt, überzeugt er doch seltsamerweise ab dieser martialischen Szene. Kenji geht nicht etwa zur Polizei, er lässt sich von Frank sein Leben erzählen. Der Abend im Puff bleibt gänzlich unverdaut und verfolgt den Leser noch Tage darauf mit bizarren Träumen.
Ganz ähnlich verfährt Hitomi Kanehara mit ihrem Roman „Tokyo Love“. Die 22-jährige Autorin brach mit 17 Jahren die Schule ab und ging ins selbst erwählte Exil, um zu schreiben. Wie ihre Heldin Lui gehört sie also zu den so genannten Hikikomori: Jugendlichen, die wie Eremiten leben. Lui geht nur aus dem Haus, wenn sie als Gelegenheitshostesse Geld verdienen muss. Sie beschließt, sich die Zunge spalten und tätowieren zu lassen. Dass sie sich mit ihren Liebhabern auf zwei Totschläger eingelassen hat, will ihr nicht in den Kopf. Das Reale hat zu viel Wucht. In ihrem kleinen, synthetischen Nest aus tätowierten Fabelwesen und abenteuerlichen Piercings haben Wirklichkeiten wie diese keinen Platz. Schade, dass ihre Totschläger zu holzschnittartig geraten sind, als dass sie in den Träumen des Lesers fortleben könnten.
Nach Lektüre dieser Bücher erweist es sich also wieder einmal als kluge Strategie, sich den guten, verlässlichen Haruki Murakami bis zum Schluss aufzuheben. Man wird nicht enttäuscht. Wie in allen seinen Romanen ist auch in seinen somnambulen Erzählungen in „Blinde Weide, Schlafende Frau“ fast immer ein einsamer Großstadtwolf mit kaum familiären Bindungen und wenig finanziellen Sorgen der Held – ein durchschnittlicher Mann ohne besondere Eigenschaften, der allerdings, meist durch den Verlust seiner Arbeit oder Freundin, aus seinem gut funktionierenden Korsett gekippt ist und sich nun nur noch mit größter Mühe am Alltag festzukrallen vermag. An der sorgfältigen Zubereitung einfacher Gerichte beispielsweise, der morgendlichen Fütterung der Katze oder dem regelmäßigen Gang zur Textilreinigung.
Das Beste an den neuen Geschichten Haruki Murakamis aber ist, dass sie anders als seine Romane ziemlich aus der Hüfte geschossen scheinen, fadenscheinige Pointen haben, manchmal sogar wenig Sinn machen und oft belanglos enden. Umso mehr gären sie nach dem Lesen noch lange vor sich hin. Man schafft es kaum, an einem Abend mehr als drei dieser Erzählungen zu verarbeiten. Man muss noch lange nachgrübeln über diese Männer, die in zugigen Hausfluren vergeblich darauf warten, dass sich die Tür woandershin öffnet, Männer, die sich unglücklich in Hochseilartistinnen verlieben, Männer, deren Spiegelbilder sich selbstständig machen.
Die schönste der Geschichten aber, die einen wohl nie mehr verlassen wird, ist eine, die sich in dieser Zeit der langen Nächte und kurzen Tage besonders dazu eignet, auf langweiligen Familientreffen für verwirrte Redepausen zu sorgen – zum Beispiel dann, wenn gerade von verpassten Steuererklärungen, neuen Ladenöffnungszeiten und Ähnlichem die Rede ist. Es handelt sich um „Die Geschichte von der armen Tante“. Nur so viel sei verraten: „Die arme Tante sitzt zwar am Tisch, ist jedoch nur da – wie eine leere Milchflasche. Sie isst den Salat mit der Fischgabel und kann ihre grünen Bohnen nicht schaffen. Und wenn zum Schluss das Eis kommt, ist sie die einzige, die keinen Dessertlöffel hat.“ Und da die arme Tante keine reale Person ist, sondern nur ein Zeichen, darum setzt sie sich dem Helden später auch auf den Rücken.
Kein Problem, denkt sich dieser. Denn als Zeichen kann sie ihm weder zu schwer werden, noch bläst sie ihm schlechten Atem über die Schulter.
Hitomi Kanehara: „Tokyo Love“. Aus dem Japanischen von Sabine Mangold. List Verlag, Berlin 2006, 117 Seiten, 14,95 €ĽHaruki Murakami: „Blinde Weide, schlafende Frau“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont Verlag, Köln 2006, 410 Seiten, 22,90 €ĽRyu Murakami: „In der Misosuppe“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 206 Seiten, 8,95 €ĽHitonari Tsuji: „Warten auf die Sonne“. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Piper Verlag, München 2006, 412 Seiten, 22,90 €