: Einer ist raus
AUS WIESBADEN MARCO LAUER
Gestern haben sie sich bei Kurt Beck getroffen. Die Mitglieder des Erwerbslosenforums Deutschland kamen zusammen zur Protestaktion vor der Mainzer Staatskanzlei. Es war vorgesehen, sich die Haare schneiden zu lassen. „Kurt Beck gibt uns einen Job“ hieß die Aktion. Henrico Frank war nicht da. Den hatten sie kurz zuvor offiziell ausgeladen. Martin Behrsing, der Sprecher des Erwerbslosenforums, meint: „Wenn man ein Gesprächsangebot von Kurt Beck nicht annimmt, dann ist das dumm. Dafür wollen wir ihm kein Podium geben.“
Henrico Frank, Deutschlands berühmtester Arbeitsloser. Samstag 12 Uhr: Termin mit ihm. Eigentlich Termin bei ihr: Brigitte Vallenthin, seiner „Sprecherin“. Seit die Öffentlichkeit den gelernten Baufacharbeiter aus Gotha entdeckt hat, weicht sie ihm nicht mehr von der Seite. Frank hatte sich an Vallenthin gewandt, als die Medienwelle auf ihn zurollte: „Ich werde hier verhackstückt“, sagte er. Sie sagte: „Da muss ich jetzt eingreifen.“
Treffpunkt Sonnenblumenweg, gelegen in Dotzheim, Stadtrandlage von Wiesbaden. Kurstadt, Casinostadt, Geldstadt, 15.000 Arbeitslose, jedes Jahr ein Weihnachtsmarkt. Im Sonnenblumenweg herrscht heute Ausnahmezustand: Es ist nichts los. Keine Menschen mit bunten Überziehern auf langen Mikrofonen, auf denen die Logos ihrer arbeitgebenden Sender stehen, RTL, Sat.1, ZDF. Kein medialer Belagerungszustand wie in den letzten Wochen – die Karawane ist weitergezogen.
Henrico Frank ist noch da. Langsamen Schrittes kommt er den Weg entlang. Es ist kurz vor zwölf. Frank trägt Turnschuhe, relativ weiß noch, eine enge Röhrenjeans und einen grauen, weiten Kapuzenpullover. Gebeugt geht er, sein Rucksack sitzt ihm auf den Schultern, als hätte er darin die Last seiner Arbeitslosigkeit verstaut. Als er bei Brigitte Vallenthin klingelt, unterbrechen die Nachbarskinder ihre vorsilvesterliche Böllerei und schauen ihn an, starren fast – der Promi von nebenan.
Bei der Begrüßung, drinnen, in Vallenthins Einzimmerwohnung, blickt Henrico Frank auf den Laminatfußboden. Das wird so bleiben während des ganzen Gesprächs mit ihm. Frank wirkt nicht nur schüchtern, er scheint verschüchtert zu sein, eingeschüchtert. Ganz anders dagegen Brigitte Vallenthin. Sie ist 65 Jahre alt, eine große Frau, fast 1,80 Meter, schlichte Eleganz, souveränes Auftreten. Erprobt im jahrzehntelangen Kampf gegen Missstände in Deutschland. Gorleben, Wackersdorf, Tschernobyl, BSE – „ich bin so eine Bürgerinitiativentussi“, sagt sie. Wenn Henrico Frank beim Reden ins Stocken gerät, übernimmt Vallenthin. Ein eingespieltes Team.
Rückblende: Besinnlich hatte Kurt Becks Rundgang über den Weihnachtsmarkt von Wiesbaden begonnen, gemütlich sollte er enden. Dann aber servierte der SPD-Chef dem Medientross, der ihn auf dieser Tour begleitete, statt Glühwein ein gefundenes Fressen. Denn es kam – das Leben eben – anders. Henrico Frank, 37, den Aufruhr im Kopf und dazu einige Biere im Bauch, kreuzte seinen Weg und schleuderte ihm lautstark seinen „Dank“ für Hartz IV und ein paar politische Unkorrektheiten entgegen. Beck versuchte mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Er blaffte: „Sie sehen nicht so aus, als ob Sie in Ihrem Leben schon viel gearbeitet haben. Wenn Sie sich waschen, haben Sie in drei Wochen einen Job.“
Heute tut es Henrico Frank leid, was er da gesagt hat, ein bisschen zumindest. „Ich gebe zu, das war nicht optimal. Aber da war auch so viel Frust dabei. Ständig bekommst du auf die Fresse als Arbeitsloser. Bemühst du dich, will man dich nicht. Tust du nichts, bist du ein fauler Sack.“ Und die Vorweihnachtszeit sei für Hartz-IV-Leute besonders belastend. „Alle Leute laufen zufrieden durch die Gassen, kaufen Geschenke, und du stehst draußen.“
Henrico Franks Weg in die Arbeitslosigkeit beginnt vor sieben Jahren. Bis 2000 arbeitete er als Altenpfleger in Mainz. Lange, bunt gefärbte Haare hatte er damals schon, aber im Altersheim war das kein Problem. „Die Leute waren froh, wenn mal ein bisschen Farbe in ihren grauen Alltag kam.“ In der Pflege herrschte Personalknappheit, er musste Jobs verrichten, für die er nicht versichert war, weil ihm dafür schlicht die Ausbildung fehlte. Er wurde entlassen. Seitdem nur noch Ein-Euro-Jobs. Er verwahrloste zusehends, fing an zu trinken, seit Mitte 2005 hat er nicht mehr gearbeitet. Sozialschmarotzer als neuer Job, bezahlt mit 345 Euro im Monat. Und mit dem Gefühl der Überflüssigkeit in einer Gesellschaft, in der Arbeit die wichtigste Voraussetzung ist, um anerkannt zu sein.
Die Zeit ohne Arbeit schien für Henrico Frank nach dem Vorfall auf dem Weihnachtsmarkt vorbei. Kurt Beck hatte ihm Jobangebote bei äußerlicher Besserung versprochen. Der Pressefotograf, der Henrico Frank als ersten ablichtete, entpuppte sich als guter Mensch. Er rief bei der Wiesbadener Friseurinnung an und erkundigte sich nach einem Coiffeur, der nach alter Tradition auch rasiert. Tags darauf konnte Kurt Beck das Ergebnis in der Bild besichtigen, der Fotograf hatte dem Blatt die Vorher-nachher-Fotos geschickt. Vorsichtshalber ohne Absprache mit Henrico Frank.
„Ich habe gedacht, ich spinne“, erzählt Frank. „Da gehe ich nichtsahnend aus dem Haus, und das Erste, was ich sehe, ist meine Visage.“ Ab jetzt wächst der Druck. Sieben – „nicht acht, wie es immer heißt!“ – Jobangebote landen in seinem Briefkasten. Harte Jobs. Gerüstbauer, Maurer. „Dank Münte hab ich ja noch dreißig Jahre Arbeit vor mir. Mit den Jobs von Herrn Beck wäre meine Bandscheibe nach einem halben Jahr endgültig ruiniert“, sagt er. Mit der hat er Probleme, seit er betrunken von einer Hollywoodschaukel gefallen ist. Das Leben ist manchmal wirklich bizarr.
Für seine nähere Zukunft sieht Henrico Frank nicht mehr schwarz. „Da kommen jetzt total viele und wollen mir helfen. Der eine bietet mir einen Computerkurs an. Vielleicht kann ich ja auch wieder in die Altenpflege, wenn mir jemand die Ausbildung finanziert.“ Nur schnell zugreifen muss Henrico Frank. Denn ohne Schlagzeilen wird diese Hilfsbereitschaft wohl nachlassen. Und dann ist er wieder einer unter vielen.