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Archiv-Artikel

„Ein Gefühl erzählen“

LEBENSWEG Martin Kordić schreibt über einen Waisen, der während des Balkan-Kriegs sein Glück sucht

Von ILK
Martin Kordić

■ 30, geboren in Celle, hat am Institut für Literarisches Schreiben in Hildesheim sowie in Zagreb studiert. Arbeitet als Lektor.

taz: Herr Kordić, Ihr Vater kommt aus der bosnischen Stadt Mostar. Wie nah ist Ihnen der Balkan-Krieg gekommen?

Martin Kordić: Während des Krieges kamen viele Verwandte zu uns und das Thema war für mich als Kind sehr präsent. Ich habe mich gleich in meinen ersten Texten mit 17 oder 18 Jahren mit diesem Stoff beschäftigt. Vor sechs Jahren hat sich dann diese Figur, der versehrte Junge Viktor, aufgedrängt.

Aufgedrängt?

Ich saß im Sommer 2008 mit meiner Cousine in Bosnien vorm Haus und wir haben Wassermelone gegessen. Sie erzählte mir, dass es in der Nähe eine Gemeinschaft von Nonnen gibt, die sich um Kinder kümmert, die durch den Krieg verwaist sind oder Alkohol- und Drogenprobleme haben. Diese Kinder sollen dort den ganzen Tag beten und arbeiten, damit sie sich wieder stabilisieren. An diesem Tag habe ich in wenigen Schlagworten die Eröffnungsszene des Romans notiert, in der ein Waisenjunge in den letzten Kriegstagen so eine Art von Gemeinschaft verlässt und in die Stadt zurückkehrt, in der er aufgewachsen ist.

Waren Sie zu Kriegszeiten dort?

Das erste Mal waren wir im Sommer 1995 wieder da, in der Annahme, es sei alles sicher. Aber es dauerte noch bis Dezember, bis der Friedensvertrag zustande kam. Vieles war kaputt, Militär und Friedenstruppen präsent – aber das sind plakative Bilder, die durch die Medien gingen. Was ich als Kind merkwürdig fand, waren alltägliche Dinge. Etwa das Basketballspielen abbrechen zu müssen, weil es grummelt und kein Gewitter ist.

Wieso haben Sie sich für Viktor als Ich-Erzähler entschieden, der die Leser direkt anspricht?

Nimmt man die Kriege Anfang der 90er als Fixpunkt, sind Viktor und ich im gleichen Alter. Für mich war immer klar, dass die Perspektive des Buches ist: Ich erzähle dir eine Geschichte.

Wie war es, als Sie diese Form gefunden haben, um über den Krieg zu erzählen?

Für mich ist es im Kern nicht unbedingt ein Roman über den Balkan-Krieg. Viele Geschichten und topographische Konfliktlinien haben ihren Ursprung dort, aber mir ging es darum, ein Gefühl zu erzählen. Viktor als Erzähler ist ein Teil von mir geworden. Umgekehrt wohl genauso.

Wie reagieren die LeserInnen?

Bei meiner ersten Lesung musste sich eine Frau erbrechen, als ich die Geburtsszene vorlas. Die ist recht blutig. Aber sie kam zurück und blieb.  INTERVIEW: ILK

Lesung von Martin Kordić und Matthias Nawrat: 20 Uhr, Haus 73, Schulterblatt 73