: „Viele Eltern fahren schlechter“
Sozialrichter Jürgen Borchert hält Klagen gegen das Elterngeld für aussichtsreich
taz: Sie sind zurzeit sehr schwer zu erreichen, Herr Borchert. Was ist los?
Jürgen Borchert: Mich rufen zur Zeit häufig Verbände im Auftrag von Eltern an, die ihr Kind noch im alten Jahr bekommen haben und jetzt Fragen wegen des neuen Elterngelds haben.
Eine Familie wollte bereits die Stichtagsregelung gerichtlich anfechten. Versuchen viele Familien, so doch noch in den Genuss der neuen Leistung zu kommen?
Ja, aber wohl vergeblich. Die Stichtagsregelung halte ich für verfassungsrechtlich unbedenklich: Der Gesetzgeber darf bei der Einführung neuer Leistungen nach Ermessen über die Übergangsregelungen entscheiden.
Also haben Frühchen keine Chance auf einen staatlichen Geldsegen?
Geldsegen? Das ist doch ein grandioser Propagandacoup der Familienpolitik – das Elterngeld ist eine Mogelpackung sondergleichen. Das Familienministerium hat es geschafft, von gravierenden familienpolitischen Verschlechterungen in der Größenordnung von 9 Milliarden Euro abzulenken. Auch beim Elterngeld selbst fahren hunderttausende Arbeitslose, Geringverdiener, Studenten schlechter, die bisher ein Erziehungsgeld von 300 Euro monatlich für 24 Monate bekommen konnten.
Und so ein Gesetz ist nicht anfechtbar?
Zumindest nicht wegen der Stichtagsregelung. Problematisch ist jedoch, dass der Staat mit dem Elterngeld Kindererziehung aus Steuermitteln ganz unterschiedlich honoriert – je nach Einkommen der Eltern. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot im Grundgesetz.
Was können Eltern, die sich benachteiligt fühlen, jetzt tun?
Eltern, die nun schlechter dastehen, sollten gegen die Elterngeldbescheide Widerspruch einlegen. Nachdem dieser abgelehnt wird, kann man kostenfrei vor dem Sozialgericht klagen. Das Verfahren dürfte dann sehr schnell an das Verfassungsgericht weitergeleitet werden.
Verfassungsrechtliche Bedenken bei einem neuen Gesetz – eigentlich nicht mehr überraschend in Deutschland. Was hat das Elterngeld gesamtgesellschaftlich für Auswirkungen?
Das Gesetz bedeutet eine extreme Umverteilung von unten nach oben: Geringverdiener bluten für Spitzenverdiener. Abgelenkt wird von einer notwendigen Strukturreform des Sozialstaats, dessen verteilungspolitische Effekte zum Himmel stinken und bei den Familien in skandalöser Weise kumulieren. Mit der Generation der Kinder steht und fällt aber die Zukunft dieses Landes – gleichzeitig lebt jedes fünfte deutsche Kind in Armut. Mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Kappung der Pendlerpauschale, den Studiengebühren und Ähnlichem wird der Skandal weiter verschärft. Deutschland betreibt damit Raubbau an seiner Zukunft, wie er schlimmer nicht möglich ist.
Trotz allgemeiner Kürzungen und einschneidender Reformen: Die Bevölkerung reißt sich dennoch um das Elterngeld. Schließlich bekommt ein Elternteil ein Jahr lang 67 Prozent des Gehalts gezahlt.
Aber hinter dem deutschen Durchschnittseinkommen von rund 3.000 Euro im Monat verbergen sich unzählige Geringverdiener, deren Elterngeld sich auf 300 Euro beschränkt. Den meisten Eltern wird das Gesetz nichts oder sogar weniger als früher bringen, das ist die harte Tatsache.
Rechnen Sie mit vielen Klagen?
Das Gesetz wird mit Sicherheit von vielen Eltern angegriffen – es hat zu viele Fehler. Ich zweifle nicht daran, dass es scheitern wird.
INTERVIEW: NICO POINTNER