piwik no script img

Archiv-Artikel

Wenn die Waschbären schnirken

Der einst nur in Amerika beheimatete Waschbär breitet sich bei uns rasant aus. Deutschland ist das Zentrum der europäischen Waschbärenpopulation. Allein in Niedersachsen wurden in der Jagdsaison 2005 weit über 2.000 der Kleinbären erlegt

„Der eine will den Waschbären, der andere die Biene und der Dritte den Reiher“

VON BARBARA KERNECK

Eine Panzerknackerbande geht um in Deutschland. Ihre Mitglieder tragen schwarze Masken und vermehren sich wie Karnickel: die Waschbären. Ihre Familienbezeichnung „Kleinbären“ trügt. Mit großen Bären sind sie nicht verwandter als mit Hunden. Ursprünglich lebten sie in Amerika, von Kanada bis Panama. Aber auch in Niedersachsen nimmt ihre Zahl rasant zu. Dies meldete zur Jahreswende das dortige Landwirtschaftsministerium. 2005 seien in dem Bundesland über 2.400 Waschbären geschossen worden, rund 50 Prozent mehr als 2004 und 100 Prozent mehr als vor 20 Jahren. Die Jagderlaubnis für Waschbären wird bei uns damit begründet, dass sie Beute reißen. Durch ihren Abschuss sollen andere Tierarten eine verbesserte Überlebenschance bekommen.

Die Dunkelziffer der heute in unserem Lande anwesenden Waschbären liegt irgendwo zwischen hunderttausend und über einer Million. Als nachtaktive Tiere sind sie im Wald stets gut versteckt. In der Stadt Kassel, Europas Waschbärenmetropole, gehören sie dagegen in einigen Vororten fast zum Straßenbild. Denn diese Tiere neigen zur Verstädterung.

Deshalb erfreut und ärgert der Waschbär den Menschen, weil er ihm in vielem ähnelt. Waschbären sind zum Beispiel durchaus gesellig. Von Zeit zu Zeit halten sie zum Informationsaustausch kleine Versammlungen ab. Für einen ihrer Kommunikationslaute gibt es sogar ein Wort im Deutschen: sie „schnirken“. Resistent gegen Smog und Krach, fressen sie gern Fastfood aus Plastikbechern. Selbst in der Natur machen sie keine gezielte Jagd auf bestimmte Tierarten und verputzen, was ihnen vor die Schnauze kommt, im Herbst vor allem Früchte.

Alle Waschbären mögen leidenschaftlich gern Fische, Krebse und Mückenlarven. Sie bevorzugen deshalb Mischlaubwälder an Gewässern. Dort schlafen sie in Baumhöhlen und fischen im Seichten. In Gefangenschaft werfen sie oft ihre Nahrung ins Wasser, um sich die geliebte Sinnesempfindung zu verschaffen. Das Erstaunlichste an ihnen bleiben die Händchen, fünffingrig und feingliedrig. Mit ihnen ertasten sie sich ihren Lebensraum, klettern und sammeln – auch Eier.

Michael Kahl, Naturschutzbeauftragter im Landkreis Bernburg an der Saale, berichtet bekümmert: „Seit den 60er-Jahren hatten sich über 100 Graureiher-Brutpärchen bei uns im Plötzkauer Auenwald an der Saale etabliert. Vor drei Jahren entdeckten einheimische Waschbären die leckeren Reihereier und machten sich darüber her. Innerhalb eines Jahres löste sich die Kolonie als Reaktion auf diesen Störfaktor auf. In den verlassenen Reihernestern auf den Bäumen hausen heute die Waschbären.“ Ergänzt sei allerdings: nicht nur die Waschbären, auch die Reiher haben sich in Deutschland seit den 60er-Jahren vermehrt.

Wie professionelle Tresorknacker merken sich Waschbären die Struktur eines Schlosses über Jahre. Mit Leichtigkeit öffnen sie Mülltonnen oder decken Ziegel ab. Wenn sich so eine Rasselbande einen Dachboden als Latrine ausguckt, kann sie dort Eier des Waschbärspulwurms hinterlassen. Der führt in seltenen Fällen beim Menschen zu Hirnhautentzündung. Überhaupt ist ein Waschbär kein geeignetes Haustier.

„Nazi-Racckoons“ titelte vor einigen Jahren die britische Boulevardzeitung Sun: „Nazi-Waschbären“. Weil ausgerechnet Reichsjägermeister Hermann Göring diese Kleinbären in Deutschland ausgesetzt haben soll, um ihrer Pelze willen. „Ich weiß nicht, ob er selbst der Spiritus Rector war“, sagt Eckhart Kahlhöfer, Direktor im Forstamt Vöhl im hessischen Nationalpark Edersee-Kellerwald: „Es passte zum Geist der Zeit, die ‚Bereicherung‘ der einheimischen Flora und Fauna war im Reichsnaturschutzgesetz vorgesehen.“ 1934 habe man am südlichen Rand des Edersees in einem großen Gewöhnungsgatter sechs Waschbären ausgesetzt. Für Hermann Göring habe es immerhin eine Jagdhütte im Wildgatter selbst gegeben. „Schon dort vermehrten sich die Waschbären kräftig und gesund“, schließt Kahlhöfer, „und nach ihrer Auswilderung haben ihre Nachfahren in großen Teilen Deutschlands bis heute eine äußerst vitale Population gebildet.“

Auch in Ostbrandenburg gelangten sie ins Freie. Im Zuge der Nachkriegswirren entwischten mehrere Tiere aus einer Pelztierfarm in der Nähe der Stadt Strausberg. Der Zufall will es, dass Görings Gut Carinhall auch von hier nicht weit lag, im heutigen Biosphärenreservat Schorfheide. Rüdiger Michels, dort Landschaftsökologe, weiß aber nichts über Göring als Initiator. Ja, es gebe heute einige im Reservat, aber ein richtiges Problem bildeten sie nicht, sagt er und fährt fort: „Es ist schwierig, im klassischen Artenschutz Einigkeit zu finden, weil da jeder so sein Tier hat. Der eine will den Waschbären, der andere die Biene und der Dritte den Reiher.“

Alles zusammen gehe nun mal nicht, sagt Michels, aber: „Ist ein Tier nicht selten, sondern ein allgegenwärtiger Allesfresser, halten wir es erst mal für böse. In all seiner Komplexität schrumpft es dann zum Eierräuber. Nur weil er ein Neubürger ist, müssen wir dem Waschbären nicht die Schuld für alle verschwindenden Arten hier geben. Monokulturen, Gülle, Pflanzenschutzmittel und Genmanipulierung rotten sehr viel mehr Arten aus.“

Forstdirektor Kahlhöfer am einstigen Auswilderungsort Edersee nimmt in der Jagddiskussion eine vermittelnde Position ein: „Wir haben uns im Laufe von siebzig Jahren daran gewöhnen müssen, dass der Wasch- bär ein Bürger Deutschlands wurde. Heute gehört es zu den Aufgaben der Jäger, ihn durch intensiven Fallenfang unter Aufsicht der Tierschutzvereine zu reduzieren. Eine Ausrottung ist nicht mehr möglich. Er wird sich weiter etablieren, als Neubürger Europas.“