Wer friedlich bleibt, wird bedroht

Pazifistisch, solidarisch und neutral sind die über 50 Friedensgemeinden in Kolumbien. Für die einen sind sie Keimzelle des Friedens, von den anderen werden sie angegriffen

BOGOTÁ taz ■ „Erst vor drei Wochen wurde ein Bootsführer von den Paramilitärs als Helfer der Guerilla tituliert. Der Mann holt die Freiwilligen der Peace Brigades International (PBI) und von Justicia y Paz mit dem Boot zu uns“, sagt Ana del Carmen Martínez. Die 45-jährige Kolumbianerin ist Sprecherin der „Gemeinschaft für Selbstbestimmung, Leben und Würde am Cacarica-Fluss“ (Cavida). Die an der Grenze zu Panama gelegene Friedensgemeinde wird seit ihrer Gründung im Frühjahr 2000 von Freiwilligen der beiden Menschenrechtsorganisationen begleitet. Für die Gemeinde ist deren permanente Präsenz der einzig wirksame Schutz vor Angriffen von Paramilitärs und Übergriffen der Armee. Die kontrollieren die unzugängliche Dschungelregion im Nordwesten Kolumbiens, die nur über die Flüsse zu erreichen ist. Offiziell soll die Armee die Region gegen die Guerilla sichern, doch von Guerillaeinheiten oder gar Gefechten in der Region hat Ana del Carmen Martínez seit Jahren nichts gehört.

Um sich von allen bewaffneten Akteuren, Armee, Polizei und Paramilitärs sowie Guerilla zu distanzieren, haben sich die beiden Dörfer Bocas del Limón und Nueva Esperanza de Díos zur Friedensgemeinde zusammengeschlossen und ihr Territorium mit großen Transparenten als „humanitäre Zone“ gekennzeichnet. „So versuchen wir unser Recht auf Neutralität im bewaffneten Konflikt durchzusetzen“, erklärt Ana del Carmen. Waffen und Bewaffnete haben auf dem Territorium der Friedensgemeinde nichts zu suchen; die Weitergabe von Informationen, jedwede Unterstützung oder Hilfe für eine der kriegführenden Parteien ist tabu. Wer diese Regeln verletzt, wird aus der Gemeinde ausgeschlossen und muss das Territorium verlassen. Das ist am Cacarica-Fluss genauso verbindlich wie in den anderen Friedensgemeinden.

„Über fünfzig Friedensgemeinden gibt es derzeit“, sagt Jesús Emilio Tuberquia. Der 41-Jährige ist einer der Sprecher der Friedensgemeinde von San José de Apartadó. Die wurde 1997 gegründet und gehört einem Netzwerk von Friedensgemeinden an, die sich alle drei Monate treffen. „Bei jedem Treffen begrüßen wir Repräsentanten neuer Gemeinden“, sagt der schlaksige Mann. Gerade ist er von einer internationalen Konferenz aus Bolivien nach Kolumbien zurückgekehrt. Internationale Aufmerksamkeit ist für die Friedensgemeinden überlebenswichtig.

68 Mitglieder der Friedensgemeinde von San José de Apartadó wurden seit deren Gründung ermordet – trotz der permanenten Präsenz von Menschenrechtsorganisationen wie Peace Brigades International. Ein immenser Blutzoll angesichts von etwa 1.300 Gemeindemitgliedern. Und der kolumbianische Staat schaut tatenlos zu, klagt Jesús Emilio: „Die Armee ist in der Region präsent, doch sie schützt die Gemeinde nicht, sondern ist selbst für mehrere der Morde verantwortlich.“

An der permanenten Bedrohung hat sich mit der öffentlichkeitswirksamen Demobilisierung der Paramilitärs nichts geändert – weder in San José noch am Cacarica. „Die Paramilitärs sind genauso präsent wie zuvor“, erklärt Ana del Carmen Martínez. Das bestätigt auch der international bekannte Menschenrechtsanwalt Alirio Uribe. „Laut offiziellen Berichten gibt es 43 neue paramilitärische Gruppen in Kolumbien“. Für den 47-jährigen Anwalt, der 2003 den UN-Menschenrechtspreis erhielt, sind die Friedensgemeinden eine Brücke in die friedliche Zukunft des Landes. „Sie stehen für Neutralität und Unabhängigkeit. Das sind Werte, die es in Kolumbien kaum gibt, und deshalb ist ihr Beispiel so wertvoll, so zukunftsweisend.“

Diese Einschätzung teilt die kolumbianische Regierung jedoch nicht. So unterstellte Präsident Álvaro Uribe der Friedensgemeinde von San José de Apartadó im März letzten Jahres Verbindungen zur Farc, Kolumbiens größerer Guerillaorganisation. Beweise für diese Behauptung blieb der Präsident Kolumbiens allerdings schuldig.

Neutralität wird in Kolumbien schnell als Gegnerschaft ausgelegt, und für Gemeindesprecher Jesús Emilio war die Präsidentenaussage nur ein Manöver, um von der staatlichen (Mit-)Verantwortung für zahlreiche Massaker und Morde an den Bewohnern abzulenken. Die Täter wurden genauso wenig ermittelt wie die Hintermänner. KNUT HENKEL