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Archiv-Artikel

Der Vorhang hält

Wer streikt oder Mitglied in Arbeiterräten ist, dem droht die Todesstrafe. Mit dieser Maßnahme wird der ungarische Volksaufstand im Januar 1957 endgültig erstickt. Ein Rückblick

VON PETER BRANDT

Die Ereignisse in Ungarn, die in den Herbstwochen des Jahres 1956 begannen und sich bis in den Januar 1957 hinzogen, waren von einer atemberaubenden Dramatik. Nachdem bereits der 17. Juni 1953 in Ostdeutschland ein Fanal gesetzt hatte, erreichte die antidiktatorische Befreiungsbewegung im Herbst 1956 einen ersten und hinsichtlich revolutionärer Energie und Radikalität nie mehr erreichten Höhepunkt. Schon der Posener Aufstand Ende Juni 1956 hatte eine breite Solidarisierung unter den polnischen Arbeitern und Intellektuellen ausgelöst. Der so genannte National- und Reformkommunist Wladislaw Gomulka hatte mit der Androhung bewaffneter Gegenwehr eine sowjetrussische Intervention verhindert und damit ein deutlich erweitertes Maß an Unabhängigkeit erzwungen. Bis in die frühen 60er-Jahre galt Polen als eines der freiesten Länder des Ostblocks.

Zunächst scheint auch in Ungarn alles gut zu gehen. Am 23. Oktober 1956 stoßen im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Polen erstmals breite Schichten der Arbeiter und Angestellten Budapests zu den im Petöfi-Kreis vereinigten Intellektuellen. 200.000 Menschen sind auf der Straße. Zu den wichtigsten aktuellen Forderungen der Demonstranten in Budapest gehören die Rückkehr des kommunistischen Reformers Imre Nagy in die Regierung, die Demokratisierung der kommunistischen „Partei der ungarischen Werktätigen“, geführt vom Stalinisten Ernö Gerö, und der Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Land.

Gewehrschüsse von Staatssicherheitsleuten lösen den offenen Aufstand aus, der angesichts der faktischen Neutralität der Armee und der Sympathie der regulären Polizei im ersten Anlauf erfolgreich verläuft, als Tausende von Budapestern die Depots der Sicherheitskräfte und Waffengeschäfte plündern. Das Zentralkomitee der Partei reagiert defensiv, indem es mehrere Nagy-Anhänger in seine Reihen aufnimmt und einige notorische Stalinisten aus dem Politbüro entfernt – nicht jedoch Gerö, den Chef des Apparats.

Am frühen Morgen des 24. Oktober rollen Sowjetpanzer nach Budapest, wo sie unter anderem das ZK-Gebäude umstellen und damit den Kontakt der Nagy-Fraktion mit den Aufständischen physisch unmöglich machen. Trotz des die Weltpolitik bestimmenden Ost-West-Konflikts hatte die Krise des sowjetischen Imperiums und der monopolbürokratischen Ordnung im Jahr 1956 systemimmanente Ursachen: Chruschtschows geheime Enthüllungsrede über Stalins Verbrechen auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und der von ihm eingeleitete Versuch einer „Entstalinisierung“ des Sowjetkommunismus erweiterte auch außerhalb der UdSSR den Spielraum für diejenigen KP-Spitzenfunktionäre, die die tyrannischen, terroristischen und byzantinischen Formen der stalinistischen Diktatur ablehnten. An der gesellschaftlichen Basis erlaubte die seit Stalins Tod im März 1953 spürbare Lockerung die Artikulation unmittelbarer materieller Bedürfnisse der werktätigen Bevölkerung, deren Lebensstandard in Ungarn nach einem deutlichen Aufschwung Ende der Vierzigerjahre wieder drastisch gesunken war.

Der nach einem bekannten Dichter der Revolution von 1848/49 benannte, im Frühjahr 1956 legal gegründete Budapester Petöfi-Klub wurde zum Kristallisationskern der innerkommunistischen Kritik seitens der jungen Intelligenz sowie der Opposition. Es entspricht dieser Konstellation, dass nationale, soziale und demokratische Impulse in der ungarischen Herbstrevolution untrennbar miteinander verbunden waren. Die bewusste Bezugnahme auf die Revolution begleitete die „Freiheitskämpfer“ vom Anfang des Aufstands bis zu seinem Ende im Januar 1957.

In den Tagen, die dem 23. Oktober folgen, wird deutlich, dass das, was sich in Ungarn vollzieht, keine diffuse Rebellion, sondern eine regelrechte Revolution vor allem der Arbeiterklasse ist. Die großen Fabriken stehen im Zentrum des Aufstands. Aber nicht nur das: In den Industrieorten des ganzen Landes konstituieren sich, teilweise in bewusster Erinnerung an die erste ungarische Räterepublik vom März 1919, Arbeiterräte, die den bewaffneten Generalstreik organisieren, die Ordnung sichern, die Versorgung gewährleisten, die Kontrolle über die lokalen Machtorgane übernehmen und sich sukzessive auf regionaler und nationaler Ebene zusammenschließen.

In den Räten sitzen parteilose Arbeiter, Kommunisten sowie Mitglieder der neu entstehenden sozialdemokratischen Partei und kleinbürgerlich-kleinbäuerlich dominierter Parteigruppierungen. Das Programm enthält sehr ähnliche Forderungen, wobei neben dem Abzug der Sowjets aus Ungarn und der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes vor allem auf die Herstellung demokratischer Rechte und Freiheiten, namentlich des Streikrechts und der Unabhängigkeit der Gewerkschaften, sowie die Einbeziehung von Repräsentanten der Aufständischen in die Regierung abgehoben wird.

Die ungarische Armee ist im Oktober 1956 längst nicht mehr gegen das eigene Volk einsatzfähig, und das über das weitere Vorgehen uneinige Moskauer Politbüro hat den Widerstand der Ungarn offenbar politisch wie militärisch unterschätzt; es ist sogar zu Fraternisierungs- bzw. Auflösungserscheinungen von sowjetischen Truppenverbänden gekommen, als die Sowjetarmee am 28. Oktober den Befehl zum Rückzug aus Budapest erhält. Damit gewinnt Imre Nagy Handlungsfreiheit, er nutzt sie, um unzweideutig auf die Seite der Arbeiter- und Volksrevolution zu treten. An die Stelle Gerös als Generalsekretär der kommunistischen Partei ist inzwischen János Kádár getreten, ein durchaus populärer ehemaliger antifaschistischer Untergrundkämpfer und alter Arbeiteraktivist, der später von den Stalinisten als „Titoist“ inhaftiert und dabei schwer gefoltert worden war, ein somit mehrfach legitimierter Reformer. Kádár wird später zum Erfüllungsgehilfen Moskaus, als es während und nach der endgültigen militärischen Niederschlagung des Aufstands gilt, die Reste von Arbeiterwiderstand erst durch Scheinzugeständnisse zu paralysieren und dann zu zerschlagen. Im Nachhinein rechtfertigte er seine damalige Haltung mit Verweis auf die gerade in Ungarn seit den 60er-Jahren erfolgende Liberalisierung des Regimes einschließlich deutlicher materieller Verbesserungen – eine Entwicklung, die sich auch viele Aufständische als verzögerten Erfolg anrechnen.

Als drei russische Armeekorps entgegen der Abmachung der sowjetischen Führung mit der Regierung Nagy am 4. November in der „Operation Wirbelsturm“ Budapest erneut besetzen – und damit auf den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt am 1. November 1956 reagieren –, beginnt ein irregulärer Krieg, in dem außer Teilen des in Auflösung befindlichen kommunistischen Parteiapparats und Resten des Geheimdienstes niemand auf die Seite der Sowjetarmee tritt, während zumindest ein Teil der ungarischen Armee, wo sich revolutionäre Soldatenkomitees gebildet haben, mit den Arbeitern und Studenten gegen die Invasoren kämpft – für „die nationale Unabhängigkeit, die Gleichheit der Rechte und den Aufbau des Sozialismus nicht durch eine Diktatur, sondern auf der Grundlage der Demokratie“, wie Pál Maléters, der autorisierte Sprecher des Verteidigungsministers der Revolutionsregierung, in jenen Tagen erklärt.

Nagy und seine Freunde, zu denen zunächst ja auch Kádár gerechnet wird, haben anstelle der diskreditierten und faktisch nicht mehr existenten Partei der ungarischen Werktätigen am 1. November – sogar mit Kádár an führender Stelle – die ungarische sozialistische Arbeiterpartei als Neubeginn des Sozialismus in Ungarn gegründet. Die Regierung ist währenddessen zu einer breiten Koalition erweitert worden.

Es folgt ein tragisch-blutiges Kapitel von Heroismus, Verrat und Verwirrung, von brutaler Repression (über 300 Hinrichtungen, rund 16.000 langjährige und bis zu 100.000 zeitweilige Einkerkerungen in Gefängnissen und Internierungslagern) und Massenflucht. Am 10. und 11. Dezember bäumt sich die Arbeiterschaft unter den Bedingungen des Kriegsrechts mit einem Generalstreik ein letztes Mal gegen die Rekonsolidierung der Diktatur auf; am 16. Dezember werden in Budapest die ersten standrechtlichen Todesurteile gefällt. Anfang Januar 1957 wird die Bildung von Arbeiterräten ebenso unter Todesstrafe gestellt wie die Beteiligung an Streiks. Der Ungarnaufstand ist damit an sein Ende gekommen.

Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob bei einer klareren Zielorientierung und Führung der revolutionären Volksbewegung die Aussicht bestanden hätte, die sowjetrussische Intervention zu vermeiden; niemand weiß genau, was am Ende der ungehinderten Entfaltung oder gar eines gegen die Sowjetarmee siegreichen Aufstands gestanden hätte. Der Kreml und seine Gefolgsleute beschworen die Gefahr einer „Konterrevolution“, sogar mit autoritär-faschistischer Tendenz – eine Lesart, die bei manchen Linksintellektuellen im Westen offene Ohren fand, weil es während des Aufstands zur Jagd auf Angehörige der zehntausende Mitglieder umfassenden, tief verhassten politischen Polizei und selbst zu Fällen von Lynchjustiz gekommen war. Auch war nicht zu übersehen, dass rechtsnationalistische Kräfte die Situation für eine Generalabrechnung mit „den Roten“ nutzen wollten, als die Artikulationsmöglichkeiten für nichtsozialistische Kräfte sich wieder vergrößerten, auch für die Politiker der jahrelang unterdrückten oder zu einem Schattendasein verurteilten bürgerlichen Parteien.

Die Symbolfigur des in diesem Sinn antikommunistischen Segments der Revolution war der aus lebenslänglicher Haft befreite, strikt konservative Kardinal József Mindszenty – auch wenn dieser sich unter dem Übergewicht der demokratischen Volksbewegung eher zurückhaltend, jedenfalls nicht zugunsten einer klerikalen, großagrarischen und kapitalistischen Restauration äußerte. Positionen solcher Art hätten ihre Vertreter nach damals fast allgemeiner Einschätzung vollkommen isoliert. Die Revolutionskomitees auf dem Lande allerdings waren deutlich anders zusammengesetzt als in den Ballungsräumen, und die unter staatlichem Druck entstandenen Agrarkooperationen lösten sich in großer Zahl auf.

Es waren in erster Linie auch nicht die Vertreter einer angenommenen bürgerlichen, gar faschistischen Konterrevolution, die die harte, blutige Vergeltung der Besatzungsmacht und ihrer einheimischen Unterstützer seit Ende November 1956 traf, sondern authentische Vertreter der Arbeiter und freiheitliche Sozialisten. An ihrer Spitze Imre Nagy, der mit fünf weiteren „Verschwörern“ nach einem Geheimprozess noch im Juni 1958 erhängt wurde.

Namentlich in der Endphase der bewaffneten Kämpfe hatten nicht unerhebliche Teile der Aufständischen in ihrer Verzweiflung auf ein Eingreifen der USA gehofft. Die zeitgleiche Suezkrise trug zweifellos dazu bei, die weltweite Aufmerksamkeit von der Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die Sowjetarmee abzulenken. Die Invasion der israelischen Armee in Ägypten, gefolgt von britischen und französischen Truppen, verringerte die ohnehin nicht sehr große Aussicht auf ein Eingreifen der UNO in Ungarn, wie es die ungarische Regierung mit dem oft als unklug kritisierten Austritt aus dem Warschauer Pakt am 1. November 1956 hatte provozieren wollen.

PETER BRANDT, Jahrgang 1948, ist Professor für Neuere Geschichte an der Fernuni Hagen