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Archiv-Artikel

Ganz, ganz unten

Seit Neujahr ist Rumänien Mitglied der EU – unter strengen Auflagen für die rumänische Bürokratie. Doch für die Straßenkinder von Bukarest hat sich unter dem Druck aus Brüssel einstweilen wenig geändert

AUS BUKAREST KENO VERSECK

Eine Ratte kriecht durch den Müll, ihr Scharren weckt Adita. Er kann sie nicht sehen, es ist spät am Nachmittag, es ist schon dunkel. Er zischelt müde, um sie zu verscheuchen, aber sie stöbert weiter zwischen Plasteflaschen, Lackdosen, Zigarettenkippen, Brotrinden und Schutt. Adita erhebt sich langsam aus der dicken Müllschicht. Er greift sich stöhnend an seinen schmerzenden Kopf, zieht die Tüte aus der Hosentasche hervor, hält sie an den Mund und atmet ein paar Mal kräftig ein. Dann zündet er sich eine Zigarette an und klettert von seinem Schlafplatz, dem Betonvorsprung, herab.

Adrian Cugereanu, genannt Adita, ist 21 und viel zu klein für sein Alter. Er hat hellbraune Augen, blondes, struppiges Haar und ein Kindergesicht. Er kommt aus dem Städtchen Haţeg in der Nähe des westrumänischen Schiltals, einer seit langem verarmten Bergbauregion. Seine Mutter brachte ihn in ein Kinderheim, als er anderthalb Jahre alt war und sie sich von seinem Vater getrennt hatte. Zwei Jahre später heiratete sie wieder und holte ihren Sohn zurück nach Hause. Der Stiefvater schickte ihn zum Betteln auf die Straße, die Mutter brachte noch vier Kinder zur Welt, von weiteren zwei Männern. Adita lief von zu Hause weg, als er acht war. Er setzte sich in einen Zug und fuhr zum Bukarester Nordbahnhof. Hier, in der ehemaligen Kantine der Eisenbahner, nun eine Ruine, ist seitdem sein Zuhause. Manchmal wohnt er in Jugendheimen, hält es aber nie lange aus und kehrt immer wieder zum Bahnhof zurück.

Er wankt durch einen Saal mit eingestürzter Decke und öffnet die Tür zu einem kleinen Zimmer. Früher war das die Toilette, ein Ablageregal und Kacheln an der Wand sind davon übrig geblieben. Jetzt wohnen hier die Mädchen. Roxana und Melinda sitzen auf dem Boden und spielen Karten, Ionela schläft eingerollt unter einem dreckigen Mantel. „Guten Morgen“, stöhnt Adita. „Ist längst Abend, Mensch!“, schnauzt ihn Roxana an. „Leg die Tüte weg und iss was!“, schreit Melinda und schiebt ihm Weißbrot und in Mayonnaise eingelegten Fisch hin. Adita stopft etwas davon in seinen Mund, Fetita, die magere Hündin, die in der Ecke mit ihren sieben Welpen liegt, schaut kurz und erwartungslos auf das Essen.

Roxana und Melinda ziehen ihre Lacktüten aus den Hosentaschen. Roxana ist siebzehn, sie hat vor ein paar Monaten ein Kind geboren. Es wäre fast gestorben, jetzt ist es irgendwo in einem Heim. Melinda hat sich in der Nacht mit Glasscherben den ganzen linken Unterarm aufritzt, vom Ellenbogen bis fast zum Handgelenk, Schnitt neben Schnitt. Sie war wütend, sie hat verschiedene Scherben ausprobiert, sie wollte sehen, welche besser schneidet, sagt sie. Sie ist 27 und sehr dünn, sie sieht aus wie eine alte Frau, sie hustet wie eine Tuberkulosekranke. Ionela, die Vierzehnjährige, wacht auf, sie lallt unverständlich. Ihre dunkelbraunen Haare sind frisch gewaschen, ihre Kleider sauber. Nachts war sie wieder bei dem Alten in der Wohnung, sagen die anderen, hinterher hat sie Lack genommen bis zum Umfallen. Ionela weiß nicht mehr, wie viele Freier es waren. Sie beginnt auf ihrem kleinen Gameboy ein Schießspiel zu spielen. Nach einer bestimmten Anzahl von Treffern ertönt in schrillem, synthetischem Sound Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“.

Es ist jetzt sehr sauber am Bukarester Nordbahnhof. Seit einiger Zeit klebt an Sitzbänken, Wänden und Fenstern kein schmieriger Staub mehr, kein Müll liegt mehr herum. Es gibt Zeitungskioske, Schnellimbisse, kleine Boutiquen und viel Reklame. Schwarz gekleidete Sicherheitsleute stehen an den Bahnhofseingängen. Wer keine Fahrkarte hat, muss Eintritt bezahlen, eine Maßnahme gegen unerwünschte Gäste. Deshalb lungern auf dem Bahnhof auch keine Straßenkinder und Jugendlichen mehr herum.

Sie sitzen draußen, am Eingang zur U-Bahn, ungewaschen, ungekämmt, in schmutzigen Kleidern. Sie haben Tüten in der Hand, aus denen sie mechanisch Aurolac schnüffeln, die Dämpfe von giftigem, billigem Gold- oder Silberlack. Manchmal, wenn die Sicherheitsleute vom Bahnhof gerade nicht aufpassen, schlüpfen einige schnell hinein, laufen zu den Imbissen und schauen, ob sie etwas ergattern können, einen Teller mit Essensresten oder Zigarettenstummel. Oder sie treiben einfach ein Spiel mit den Männern in Schwarz. Sie feixen, lachen laut und frech und entwischen blitzschnell im Gewühl der Reisenden. Manchmal fangen die Sicherheitsleute sie ein, zerren sie zu den Ausgängen und schubsen sie unsanft hinaus.

Bogdan Panait lächelt säuerlich, ihm widerstrebt dieses Gespräch. „Das Straßenkinderproblem stagniert, die Dinge entwickeln sich positiv“, sagt er monoton. „Wir sprechen nicht mehr von einem Phänomen, wir sprechen jetzt von einem sozialen Problem.“ Bogdan Panait ist Staatssekretär und Direktor der „Nationalen Behörde für den Schutz und die Rechte der Kinder“, der oberste Funktionär in der Hierarchie des behördlichen Kinderschutzes in Rumänien. Der 47-Jährige hat kurzes, dunkelblondes Haar, eine halb randlose Brille und schmale Lippen. Er ist studierter Volkswirt mit Spezialisierung auf Bau- und Transportwirtschaft sowie Buchhaltung.

Seit 1991 arbeitet er im Bereich Kinderschutz. Sein rechtes Bein zuckt nervös, während er die „pyramidale Form der Kategorien“ bei den Straßenkindern erläutert. Es gebe unter anderem die permanenten Straßenkinder, die temporären Straßenkinder, die Jugendlichen über achtzehn Jahre, die Schulschwänzer, die U-Bahn-Kinder, diejenigen, die mit ihrer Familie auf der Straße lebten, und diejenigen, die von ihren Eltern zum Betteln oder zur Prostitution auf die Straße geschickt würden. Seine Behörde sei dabei, erzählt Panait, eine Kooperation mit den Bürgermeisterämtern, den lokalen Behörden, den Sozialdiensten und der Polizei aufzubauen. Man müsse eine neue Mentalität schaffen und von der Phase der Symptombehandlung zur Phase der Vorbeugung übergehen. Panait zählt die neuen Gesetze und Regierungsentscheidungen und seine Treffen mit Kreispräsidenten und Bezirksbürgermeistern auf.

Panaits Büro liegt im Zentrum von Bukarest, ein paar Schritte entfernt von der Piata Romana, in deren Seitenstraßen an jedem späten Nachmittag Gruppen von Straßenkindern, jugendlichen Prostituierten und Zuhältern auftauchen und bis in die Morgenstunden herumlungern. Panait ist Welten von diesen Seitenstraßen entfernt. Er sagt, es gebe schon in einigen Bezirken Bukarests 24-Stunden-Hotlines, bei denen Bürger anrufen könnten, um auf Straßenkinder oder ihre Probleme aufmerksam zu machen. Bald werde es überall solche Hotlines geben, man werde Streetworker-Gruppen aufbauen, die Kooperation mit den Nichtregierungsorganisationen ausweiten und spezielle Straßenkinder-Sektionen in Krankenhäusern einrichten. „Die EU hat uns mit der Note Eins plus beim Kinderschutz bewertet“, sagt Panait.

Die Sozialarbeiterin Tamara Cadu ist eine schlanke, sportliche Frau mit kurzem, schwarzem Haar, sie bewegt sich schnell und zielgerichtet, sie spricht in kurzen Sätzen, manchmal in soldatischem Ton. Die 41-Jährige wirkt selbstsicher, sehr beherrscht und so, als habe sie jederzeit alles unter Kontrolle. Lange Zeit dachte sie, alles ließe sich wieder in die gewohnte Ordnung bringen.

Sie wohnte in Huși, einem Städtchen in Ostrumänien, sie war Mitte dreißig, hatte drei Kinder und arbeitete als technische Kontrolleurin in einer Textilfabrik. Die Ehe mit ihrem Mann Neculai war nicht glücklich, aber auch nicht die schlechteste. Neculai konnte mit den Kindern, Robert, Eduard und Laura, nichts Rechtes anfangen, aber sie waren versorgt und brachten aus der Schule gute Durchschnittsnoten mit.

Robert, Tamara Cadus ältester Sohn, begann zu schwänzen, als er vierzehn war. Er trieb sich auf der Straße herum, bald darauf kam er gar nicht mehr nach Hause. Erst verschwand er einen Tag lang, dann zwei Tage, mit der Zeit wurden es Wochen. Anfangs versuchte Tamara gemeinsam mit Lehrern auf ihn einzureden, später, als er länger verschwand, benachrichtigte sie die Polizei. Robert rief ab und zu an, manchmal kam er nach Hause, er sagte fast nichts zu seiner Mutter, nur, sie solle sich keine Gedanken machen und ihn in Ruhe lassen. Eines Tages entdeckte Tamara, dass ihr Sohn sich den Unterarm aufgeschnitten hatte, systematisch, Schnitt für Schnitt.

Drei Jahre lang verbrachte Robert die meiste Zeit auf der Straße. Tamara war verzweifelt, sie lebte in ständiger Sorge um ihren Sohn. Mit ihrem Mann fand sie keine Verständigung, und der fand keine mit seinem Sohn, er nahm sein Verschwinden hin wie einen unerklärlichen und unabwendbaren Schicksalsschlag. Robert wollte nicht nach Hause zurückkehren, aber Tamara konnte ihren Sohn überzeugen, in eine Wohngemeinschaft für Straßenkinder zu ziehen, in das Dorf Aricesti in Südrumänien, sechzig Kilometer nördlich von Bukarest. Dort leben Kinder und Jugendliche in den umgebauten Gebäuden einer ehemaligen landwirtschaftlichen Genossenschaft, gehen zur Schule und lernen Handwerksberufe. Es ist ein Projekt der österreichischen Hilfsorganisation Concordia, finanziert aus westeuropäischen Spenden. Tamara Cadu kannte das Kinder- und Jugenddorf, weil ihre Schwester Irina dort als Erzieherin arbeitete.

Nachdem Tamara ihren Sohn in Aricesti untergebracht hatte, änderte sie ihr eigenes Leben. Sie trennte sich von ihrem Mann, sie kündigte in der Textilfabrik, im Januar 2004 ging sie nach Bukarest und wurde dort Betreuerin im Sankt-Lazarus-Heim, ein Übergangsheim für Straßenkinder, auch das eine Einrichtung von Concordia. „Ich wollte näher bei meinem Sohn wohnen und begreifen, warum er von zu Hause weggelaufen war“, sagt Tamara. „Und ich dachte, die Arbeit mit Straßenkindern würde mir dabei helfen.“

Andreea Buduroi steht mit gesenktem Blick im Lehrerzimmer ihrer alten Schule, sie kaut auf ihren Lippen, ihre frühere Französischlehrerin schaut sie an. Vor drei Jahren war Andreea zum letzten Mal hier. Jetzt ist sie sechzehn, ein Mädchen mit langen, dunkelblonden Haaren und Augen, die sehr abgehärtet aussehen, ein Mädchen, das nur selten lächelt. „Warum bist du nicht mehr zur Schule gekommen“, fragt die Lehrerin vorwurfsvoll. Eigentlich weiß sie die Antwort längst, aber sie will sie, nach drei Jahren, nun auch von Andreea hören. Andreea hat keine Stimme mehr vor Scham. „Ich war auf der Straße“, flüstert sie. Die Lehrerin fragt nicht weiter. Andreea bekommt ihre alten Zeugnisse ausgehändigt, dann geht sie.

Es ist kurz nach neun Uhr morgens, im Bukarester Neubauviertel Drumul Taberei. Mit dem Bus Nummer 169 fährt Andreea durchs Viertel und schaut lange einem Neubaublock nach. „Da hinten wohnt meine Mutter“, sagt sie gedankenversunken.

Der Bus bringt Andreea zum Kinder- und Jugendheim Sankt Lazarus am nördlichen Stadtrand von Bukarest. Dort lebt sie seit drei Monaten. Kinder und Jugendliche von der Straße machen dort die ersten Schritte in ein normales Leben: geregelte Essenszeiten, Mitarbeit im Haushalt, Sport und Spiel. Zusammen mit Erziehern können sie auch ihre weitere Zukunft planen. Andreea hat sich entschlossen: Sie wird in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen und ihren Schulabschluss nachholen.

Andreea erzählt der Sozialarbeiterin Tamara Cadu, wie es in ihrer früheren Schule war und gibt ihr die Unterlagen für die Neuanmeldung. Tamara freut sich, Andreea liegt ihr am Herzen. Im Frühjahr traf sie das Mädchen zum ersten Mal. Es dauerte einige Monate, bis sie sie überzeugen konnte, im Übergangsheim zu bleiben. Mehrmals lief Andreea zwischendurch weg. Auch jetzt verschwindet sie gelegentlich einfach für eine Nacht. „Manchmal habe ich so meine Zweifel, ob du nicht wieder abhaust“, sagt Tamara zu Andreea in etwas rauhem Ton. Andreea erwidert nichts, sie schaut mit ihren abgehärteten Augen zur Seite.

Andreea ist im Neubauviertel Drumul Taberei aufgewachsen. Ihre Eltern trennten sich, als sie neun Jahre alt war. Die Mutter lernte einen neuen Mann kennen und bekam noch ein Kind mit ihm, da war Andreea zwölf. Kurze Zeit später lief sie das erste Mal fort. „Ich war ein schlechtes Kind, ich habe meine Mutter oft erzürnt“, sagt Andreea. Sie spricht leise und schluckt zwischen den Worten.

Ihre Mutter arbeitet abends und nachts als Barfrau, ihr Stiefvater bei einem privaten Sicherheitsdienst. Andreea besucht sie selten. Zu ihrem Vater hat sie keinen Kontakt mehr. „Ich glaube, mir hat die Liebe meiner Eltern gefehlt“, sagt sie. „Mein Vater hatte nie Zeit, sich zu mir zu setzen und sich mit mir zu unterhalten. Und meine Mutter hat sich verändert, als mein Stiefbruder geboren wurde. Sie ist mir aus dem Weg gegangen und hat sich nicht mehr für mich interessiert. Ich habe ihr auch ziemlich viele Probleme bereitet. Zum Beispiel hatte ich schlechte Zensuren in der Schule. Wenn sie deswegen mit mir schimpfte, lief ich weg von zu Hause. Sie wusste, wo ich auf der Straße lebte. Manchmal kam sie allein und holte mich, manchmal auch mit der Polizei. Manchmal hat sie mich auch richtig verprügelt.“

Sechzig Kilometer nördlich von Bukarest, in der Großstadt Ploiești, lässt sich Grigore Serbana, genannt Gore, in der Poliklinik Nummer fünf die Lunge röntgen und Blut abnehmen. Der 26-Jährige braucht ein Gesundheitsattest für seinen neuen Arbeitsplatz bei einem Hoch- und Tiefbauunternehmen. Eine Krankenschwester notiert sich seinen Namen und sein Geburtsdatum. Als er das Dorf nennt, in dem er wohnt, Aricesti, Ortsteil Nedelea, stutzt sie und blickt ihn an. Er weiß, was sie jetzt denkt. „Ja“, sagt er leicht ironisch, „ich war eine Straßenkind und habe ein paar Jahre in der Kinderkooperative Aricesti gewohnt. Aber jetzt habe ich ein eigenes Haus.“

Eine Stunde später im Büro der Firma, bei der Gore in einigen Tagen als Bauarbeiter anfangen wird. Eine junge Sekretärin blättert in Gores Unterlagen, dann sagt sie ihm, er solle in drei Tagen wiederkommen, um den Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Sie duzt ihn. Gore nimmt es gelassen. Es ist nur die harmloseste Form, ihm klarzumachen, dass er als ehemaliges Straßen- und Heimkind niedriger steht als andere.

Gore ist froh, dass er die Stelle bekommen wird. Seit fast einem Dreivierteljahr hatte er keine Arbeit mehr. Er hatte in der Fleischabteilung eines Großhandels gearbeitet, als Packer, zwei Jahre lang, nur sein Chef wusste, dass er ein ehemaliges Straßenkind war. Als seine Kollegen dann doch zufällig davon erfuhren, begann für Gore ein zermürbendes Mobbing, am Ende hielt er es nicht mehr aus und kündigte. „Für manche bist du einfach kein Mensch“, sagt Gore. „Wenn die Leute erfahren, dass du auf der Straße und im Heim warst, dann machen sie mit dir, was sie wollen, und werden böswillig. Sie warten nur darauf, dass du Fehler machst, um dir das dann anzuhängen.“

Gore ist ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Er ist groß gewachsen, hat kurzes, blondes Haar, einen Dreitagebart und fast dunkelgrüne Augen. Seine Eltern waren Alkoholiker, die Mutter brachte neun Kinder zur Welt und verlor einige Schwangerschaften, Gore hat vergessen, wie viele es waren. Das Haus der Eltern in Bukarest brannte ab, als er sieben war. Die Familie lebte danach monatelang auf der Straße, dann brachte die Mutter Gore und einige andere Geschwister ins Heim.

„Dort wohnten wir in einem Hof, der von Mauern umgeben war“, erzählt Gore. „Wir sahen niemanden, die Erzieher schlugen uns ständig mit Stöcken. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen, jeder bekam fünf Hiebe auf die Hände. Sie schlugen mit ganzer Kraft zu, so dass meine Hände grün und blau waren. Danach steckten sie uns meistens in den Isolationsraum. Meine Eltern haben mich im Heim nicht besucht.“ Gore überlegt, er sucht eine plausible Erklärung dafür. „Mein Vater hatte Probleme mit den Beinen, er konnte kaum laufen“, sagt er. „Und meine Mutter, hm … ich glaube, sie hat sich nicht besonders für uns interessiert.“

Als Gore dreizehn war, holte ihn ein älterer Bruder aus dem staatlichen Heim und brachte ihn in ein Heim der Organisation Concordia. Von dort kam er später zur Kinderkooperative in Aricesti. „Ich hatte Kleidung und Spielzeug, ich ging zur Schule und lernte“, sagt Gore. „Wir fuhren jedes Jahr ans Meer und in die Berge. Die Erzieher durften uns nicht schlagen, das war streng verboten. Es war die schönste Zeit meines Lebens.“

Melinda steht am Tresen der Bahnhofsapotheke, sie will Verbandszeug, Wasserstoffperoxid und Wundsalbe kaufen. Die Verkäuferin blickt voller Verachtung auf sie herab, dann holt sie die Ware und sagt den Preis. Es sind die einzigen Worte, die ihr über die Lippen kommen.

In dem kleinen Zimmer der Bahnhofsruine reißt Melinda den dreckigen Lappen mit dem angetrockneten Blut von ihrem Unterarm ab, es sind so viele Schnitte, dass der Arm aussieht, als sei die ganze Haut abgerissen. Adita kippt ihr die Flasche Wasserstoffperoxid über den Arm, streicht Wundsalbe auf, Melinda verzieht das Gesicht vor Schmerz und saugt hastig an ihrer Lacktüte.

Warum hat sie sich in der Nacht so verstümmelt? „Ich hab mich betrunken und Lack genommen und war völlig zu“, sagt sie. „Ein Mädchen, auch von der Straße, hat mich beschimpft und mich verprügelt. Statt zurückzuschlagen habe ich Scherben genommen und mir den Arm aufgeschnitten.“

Melinda Zsigmond ist 27 Jahre alt, sie hat schwarze Haare und große, braune Augen. Ihr spindeldürrer Körper könnte der eines Mädchens sein, ihr Gesicht das einer Frau um die vierzig. Melinda wuchs in einem nordrumänischen Dorf auf. Sie lebte mal bei ihren Großeltern, mal in Heimen, selten auch bei ihrer Mutter. Ihr Vater saß wegen Diebstahls fast ständig im Gefängnis. Als sie zehn war, versuchte einer der wechselnden Männer ihrer Mutter sie zu vergewaltigen. „Er sagte mir, komm, ich zeig dir, wie ein Mann mit einer Frau Liebe macht. Ich fing an zu weinen. Als meine Mutter von der Arbeit kam, fragte sie, was los ist, und ich erzählte es ihr. Kaum hatte sie alles gehört, jagte sie den Mann mit Fäusten und Fußtritten durch die Wohnung. Bald darauf packte ich meine Sachen und lief weg – ab nach Bukarest! Hier, auf der Straße, bin ich dann hängen geblieben.“

Melinda nimmt einige tiefe Züge aus der Lacktüte. Sie hebt einen der sieben Hundewelpen hoch, küsst ihn auf die Schnauze und drückt ihn, bis er vor Schmerz quiekt. Sie wirft ihn zurück zur Hündin Fetita, dann wankt sie aus dem Raum und steigt durch das Loch in der Mauer aus der Ruine.

Roxana und Ionela folgen ihr, Adita nimmt ein paar leere Plasteflaschen, er will später im Bahnhofsklo Wasser holen. Draußen, auf dem großen Hofgelände, zwischen Gestrüpp und hochgewachsenem Unkraut, ist der Toilettenplatz. In einer Ecke liegen verrostete Blechgestelle, Adita hat sie vor Monaten hierher geschleppt. Er will sich daraus ein richtiges Bett bauen, bald, irgendwann einmal.

Er und die Mädchen stehen herum, sie wissen nicht, was und wohin. Sie schreien sich an, singen, liegen sich in den Armen, stoßen sich. Schließlich gehen sie auseinander, einfach so, ohne einander irgendetwas zu sagen. Adita schlendert vor den Bahnhofsplatz, vielleicht kann er etwas Geld verdienen beim Einparken. So nennen sie das, die Kinder und Jugendlichen von der Straße. Sie winken Autos auf freie Parkplätze und bewachen sie, manchmal waschen sie auch die Scheiben. Es kostet nichts, am Bahnhof zu parken, die Fahrer wissen das, aber die meisten geben trotzdem Geld, manche wortlos, manche maulend.

Ein Polizeiwagen fährt langsam patrouillierend auf und ab. Es ist besser, jetzt kein Einparken zu veranstalten. Wenn die Polizisten die Kinder und Jugendlichen dabei erwischen, nehmen sie sie mit auf die Wache. Manchmal schlagen sie sie.

Adita setzt sich auf den Mauervorsprung bei der U-Bahn, er starrt umher, hin und wieder zieht er an seiner Lacktüte. „Die Straßenkinder sind meine Familie“, sagt er. „Ich würde ihnen so gern ein Vorbild sein. Ich habe nichts zustande gebracht in meinem ganzen Leben. Es tut mir leid, dass ich an der Lacktüte hänge, ich hätte so gern eine Zukunft.“ Er beginnt zu weinen. „Ich bin ohne Eltern aufgewachsen“, sagt er, „sie wollten mich zu Hause nicht haben.“ Er schluchzt. Plötzlich reißt er seinen schweren, vom Lack betäubten Kopf hoch. Nein, er will nicht mehr weinen. Er steckt seine Lacktüte weg und schwört, er werde ab sofort aufhören, dieses Zeug einzuatmen. Überhaupt werde er jetzt bald in ein Heim ziehen und Schluss machen mit dem Leben auf der Straße. Er lächelt verschmitzt und zwinkert mit den Augen.

Andreea läuft durch Scherben und Schutt in einem Hof, vorbei an einem alten, seit Jahren verlassenen Gebäude. Hier hat sie eine Zeit lang gewohnt, als sie auf der Straße war, es ist ein Gebäude an einer Straßenkreuzung im Bukarester Neubauviertel Dristor.

Andreea ist mittags aus dem Heim weggegangen, sie wollte raus, irgendwo in der Stadt umherlaufen. Jetzt schaut sie nach oben in den ersten Stock zu einem Zimmer mit eingeschlagenen Fenstern. „Wir hatten da ein paar Matratzen“, sagt sie, „Wasser haben wir von der Tankstelle da drüben geholt.“ An der Kreuzung hält sie Ausschau nach bekannten Gesichtern. Nach einer Weile entdeckt sie jemanden. Es ist Elisabeta Rasuceanu, eine 53-jährige Frau, die an einer Straßenecke Zeitungen verkauft. Andreea läuft zu ihr. Sie lächelt voller Freude.

Als Andreea und die anderen Straßenkinder im Gebäude gegenüber wohnten, brachte die Frau ihnen manchmal Essen. Andreea erzählt ihr, dass sie nun in einem Heim wohne und bald wieder zur Schule gehen werde. „Bravo, mein Kind, bravo“, sagt Elisabeta Rasuceanu. Andreea schaut sie dankbar lächelnd an. „Sie waren nicht wie die anderen Menschen“, sagt sie, „Sie waren wie eine Mutter zu mir.“ Die Frau antwortet: „Du weißt doch, ich habe ja selbst fünf Kinder.“

Elisabeta Rasuceanu erzählt Andreea, dass vor kurzem ein früherer Straßenkamerad von Andreea ins Krankenhaus abtransportiert wurde. Er hatte mit seiner Clique im Hinterhof eines Wohnblocks campiert, gleich um die Ecke, ein Anwohner hatte aus seinem Fenster Marmeladengläser auf die Jugendlichen geworfen. „Er sah ganz entstellt aus im Gesicht“, sagt Elisabeta Rasuceanu kopfschüttelnd. „Wie können Menschen nur so etwas tun? Die meisten haben euch immer beschimpft, und die Polizei hat euch geschlagen. Schrecklich! Es ist gut, Kindchen, dass du jetzt zur Schule gehen wirst.“ Andreea schaut die Frau fast zärtlich an. Sie verabschiedet sich. Im Gehen dreht sie sich noch einmal um und winkt ihr lächelnd zu.

Sie schlendert vorbei an einem alten Autowrack, in dem hat sie mal gewohnt, einen Herbst lang, ein paar Schritte weiter zeigt sie auf einen zugeschweißten Kanaldeckel, der Eingang zu ihrer Winterbehausung. Sie beugt sich über den Deckel und prüft die vier Schweißpunkte. „Leicht aufzubrechen“, sagt sie gespielt verächtlich.

Auf der anderen Straßenseite liegt ein Fast-Food-Restaurant. Dort hat Andreea abends manchmal gebettelt oder betteln lassen. „Ich hatte meine Produzenten“, sagt sie. Kinder, jünger als sie, die bettelten und ihr das Geld brachten. „Sie waren zehn, zwölf Jahre alt“, sagt sie. „Ich habe sie nicht geschlagen“, fügt sie schnell und entschuldigend hinzu. „Ich habe ihnen Essen gekauft und Zigaretten und sie bei mir schlafen lassen. Ich war so eine Art Mutter für sie.“

Nach einer Weile sagt sie unvermittelt: „Wenn ich mal selbst Kinder habe, werde ich mich um sie kümmern und dafür sorgen, dass sie nicht auf die Straße kommen. Ich werde sie lieben und dafür sorgen, dass sie nicht auf die Straße gelangen. Egal, ob ich vier, fünf oder sechs Kinder haben werde, ich werde sie alle gleichermaßen lieben.“

Gore und seine Frau Cristina sitzen in der Küche ihres kleinen Bauernhauses, sie essen Bohnenbrei und Weißbrot. Eine Scheibe des Küchenfensters ist kaputt, die Mauern des Hauses haben innen und außen Risse, in der Küche fällt der Putz an manchen Stellen ab.

Cristina ist erleichtert, dass ihr Mann endlich wieder Arbeit hat, aber es ist keine Erleichterung ohne Sorge, ohne Zittern. Nachdem Gore arbeitslos wurde, betrank er sich mehrmals bis zum Umfallen, fing Streit mit Nachbarn an, wollte sich umbringen. Er reagiert empfindlich und unausgeglichen auf Probleme und Misserfolge. Gore und Cristina haben drei Kinder, Andrei, 5, Mihaita, 3, und Costi, neun Monate. Cristina ist schon wieder schwanger, sie weiß nicht, ob sie das Kind behalten soll. Es gibt drei Läden im Dorf, bei allen drei haben sie und Gore Schulden. Nur ein Laden schreibt noch an.

Vor acht Jahren lernten Gore und Cristina sich kennen. Gore wohnte in der Kinderkooperative Aricesti, dem Heim für Straßenkinder. Er hatte seinen 8-Klassen-Abschluss und eine Bäckerlehre gemacht. Cristina ist im Dorf aufgewachsen, die Tochter von Bauern. Die Liebe zwischen ihr und Gore geriet zur einer Art Romeo-und-Julia-Geschichte in der rumänischen Provinz.

Sie trafen sich heimlich. Als Cristinas Vater erfuhr, in wen sich seine Tochter verliebt hatte, schlug er sie. Gore wollte mit ihm sprechen, als Antwort verprügelte der Vater auch ihn. „Er hat mir immer wieder gesagt, solche Leute sind nicht in der Lage, eine Familie zu gründen, und sie wissen nicht, was Arbeit ist“, erzählt Cristina. Sie flüchtete von zu Hause und zog zu Gore in die Kinderkooperative. Schließlich gaben ihre Eltern nach. Sie überließen den beiden das Haus der verstorbenen Großeltern, halfen hier und da mit Geld, kümmerten sich um die Kinder. „Aber es ist eine gewisse Distanz geblieben“, sagt Cristina. „Als ob sie immer auf etwas warten, damit sie sagen können: ‚Siehst du, wir haben dich gewarnt!‘ “

Gore und Cristina leben mehr als bescheiden. Fast niemand mehr borgt ihnen Geld. Im Hof halten sie ein paar Hühner, hinter dem Haus gibt es einen winzigen Gemüsegarten und ein kleines Maisfeld. Es sind sehr ärmliche Verhältnisse.

Seit einigen Monaten hat Gore nichts mehr getrunken. Er ist ein heiterer Mensch. Mit seinem Lachen und seinen grünen, gutmütigen Augen sieht er kindlich aus. Seine Frau schaut ihn mal zärtlich und nachsichtig an, mal, als ob sie längst weit entfernt von ihm sei. Gore schaut seine Kinder an und sieht glücklich aus. „Ich freue mich, dass ich sie habe“, sagt er. „Meine Kinder! Sie werden es besser haben als ich. Sie werden normale Kinder sein und zur Schule gehen. Und jetzt bekomme ich ja Arbeit, dann geht es wieder aufwärts.“

Er spielt mit seinen Söhnen. Er sieht sie liebevoll an, und seine Augen sagen, dass er ihnen nie etwas zuleide tun könnte.

Im Hof des Sankt-Lazarus-Heims spielt Tamara Cadu mit den Kindern und Jugendlichen Volleyball. Es geht ruppig zu. Die Spieler schreien sich an, wenn die Schimpfworte zu derb werden, ruft Tamara die Jungen und Mädchen in lautem, soldatischem Ton zur Ordnung. In einer Spielpause setzt sich Tamara auf die Treppe und raucht. Ein kleingewachsener Junge, vierzehn Jahre alt, hockt sich neben sie und legt den Kopf in ihren Schoß. Tamara lässt es geschehen, nach einer Weile schiebt sie ihn sanft weg.

Andreea ist abgehauen, vor einigen Tagen, und nicht mehr wiedergekommen. Tamara hat sie gesucht, an mehreren Orten in Bukarest, und nicht gefunden. Ja, doch, sagt sie kühl, sie sei enttäuscht. „Ich hab mir so was gedacht“, sagt sie. „Sie wird auch nicht so bald wieder hier auftauchen, ziemlich sicher.“ Seit drei Jahren wohnt Tamara Cadu jetzt im Sankt-Lazarus-Heim in einem winzigen Zimmer, zusammen mit einer anderen Betreuerin, darin stehen ein Doppelstockbett und ein Kleiderspind, es gibt eine Gemeinschaftsdusche. Es sind Bedingungen wie in einem asketischen Jugendcamp. Tamaras fast erwachsene jüngere Kinder leben bei ihrem Vater. Sie wollte begreifen, warum ihr Sohn von zu Hause verschwand. Und, hat sie eine Erklärung? „Ich glaube nicht“, sagt sie unsicher. Sie überlegt. Nach einer guten Weile sagt sie entschlossen: „Nein.“

Fast jeden Nachmittag geht sie durch Bukarester Stadtviertel, mal zum Obor-Markt, mal ins Universitätsviertel, mal zum Bahnhof. Sie trifft sich mit Straßenkindern und Jugendlichen, erkundigt sich, wie es ihnen geht, ob sie Probleme mit der Polizei haben, ab und zu begleitet sie sie zu einem Termin beim Arzt. Und sie versucht sie zu überzeugen, ins Übergangsheim zu kommen, wenigstens für einen Nachmittag, zum Duschen und Kleiderwechseln. Sie kennt hunderte von Kindern und Jugendlichen, viele nennen sie „Mama“. Wenn sie Tamara sehen, versprechen sie jedes Mal, dass sie am nächsten Tag ins Übergangsheim kommen werden. Meistens wartet Tamara vergeblich.

„Sie machen keine Pläne“, sagt Tamara, „die wenigsten führen irgend etwas zu Ende, selbst wenn jemand kommt und ihnen helfen will. Wenn man nicht ihr Vertrauen und ihren Respekt gewinnt, erreicht man gar nichts. Ich habe gelernt, keine wohlfeilen Versprechen zu machen. Ich stelle ihnen einfach Fragen: Was habt ihr heute gemacht? Wie fühlt ihr euch? Wie geht’s?“

An diesem Nachmittag geht Tamara Caduins ins Bahnhofsviertel. Zuerst trifft sie einen Jugendlichen mit schwarzem, zerzaustem Haar, in Lumpen gekleidet, in der Hand eine Tüte mit Lack. Er heißt Catalin, sagt er, er sei seit seiner Kindheit auf der Straße. Mehr weiß er nicht über sich. Tamara legt ihm die Hand auf die Schulter und schlendert mit ihm durchs Viertel.

Am Bahnhofsplatz entdeckt sie Adita, Roxana, Melinda und einige andere. Als sie Tamara sehen, laufen sie auf sie zu und begrüßen sie mit Freudenschreien. Sie toben um sie herum wie kleine Kinder, jeder will irgendetwas sagen und Tamara umarmen, und alle schwören, dass sie am nächsten Tag ins Übergangsheim kommen werden.

Bogdan, ein dreizehnjähriger Junge, singt ein Lied für Tamara. Es ist ein Kindergebet. „Lieber Gott, hol meine Eltern zurück“, heißt es darin. Bogdan sieht aus, als sei er erst sieben oder acht Jahre alt. Er ist fröhlich und lebhaft, nur seine Augen sind traurig und viel zu erwachsen. Er kommt aus Ostrumänien, aus dem Städtchen Birlad. Seine Mutter arbeitet seit Jahren als Kellnerin in Italien, sein Vater ist Tagelöhner in einem Landwirtschaftsbetrieb. Bogdan ist von zu Hause weggelaufen. Er hat Narben von Schnittwunden im Gesicht und am Hals. Er streckt seine dünnen Arme aus, mit beiden Händen hält er seine Lacktüte empor. „Das ist mein Leben!“, ruft er, „das ist mein Brot!“

KENO VERSECK, 39, ist Korrespondent der taz in Rumänien. Sein Sachbuch „Rumänien“ erscheint im Februar in einer neu bearbeiteten Auflage im C. H. Beck Verlag (208 Seiten, 12,90 Euro)