: berliner szenen Gelebte Paranoia
Die Explosion
Mein Sohn lehnte sich so weit aus dem Kinderwagen, dass er fast hinausfiel. Ich hielt ihn mit einer Hand fest, während ich schob. Darum nahm ich den Mann gar nicht richtig wahr, der auf dem Gehsteig stand. Erst als er mich ansprach, blickte ich zerstreut auf, hielt meinen Sohn weiter mit einer Hand fest.
Ob wir aus dem Neubaugebiet kämen, fragte der Mann. Er sah aus wie ein Vertreter, trug Anzug und Krawatte und hielt einen Ordner in der Hand. Ich nickte. Da, im Neubaugebiet an der Baustelle, habe es eine Explosion gegeben, der große Kran sei umgestürzt. Das halbe Wohngebiet habe man evakuiert, einige Nachbarhäuser seien einsturzgefährdet. Er habe es gerade per Handy erfahren, sagte er und winkte mit dem Telefon. Verletzte gäbe es auch, vielleicht Tote. Rettungskräfte aus der ganzen Stadt seien vor Ort, es sei ein höllisches Durcheinander, die Straße habe man auch gesperrt.
Ich sah den Mann an und wusste genau, dass nichts davon stimmte. Überall nur die übliche Ruhe, kein Alarm, kein Tatütata. Wir waren gerade an der Baustelle vorübergekommen, es war keine zehn Minuten her. „Das kann gar nicht sein“, erwiderte ich und ging weiter, sah mich noch mal um. Der Kerl hielt den nächsten Fußgänger an und redete auf ihn ein, wahrscheinlich erzählte er ihm den gleichen Unsinn.
Obwohl ich wusste, dass der Mann gelogen hatte, nahm ich später einen Umweg, lief extra zwischen den Grünanlagen entlang und kam schließlich bei Lidl raus, von wo man einen guten Blick auf die Baustelle hat. Der Kran stand aufrecht, das Haus würde bald fertig sein. Und trotzdem, es hätte ja alles wahr sein können. Verrückte Leute gibt es, dachte ich und freute mich, dass alles so aussah wie immer.
ANNETTE SCHWARZ