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Archiv-Artikel

Die Frau als Beute

Diesem edlen Ritter in die Parade fahren oder: Wie es wäre, Raschid auf der Straße zu begegnen. Eine Erwiderung auf Michael Kleebergs Verteidigung der Rolle des libanesischen Schriftstellers Raschid al-Daif in dem Band „Verschwulung der Welt“

VON BRIGITTE WERNEBURG

Als Literatur gewordenes Ergebnis des Austauschprogramms „West-östlicher Diwan“ will auch der schmale Suhrkamp-Band „Die Verschwulung der Welt“ dem Dialog zwischen arabischer und westlicher Kultur dienen. Michael Kleeberg schrieb nun in dieser Zeitung, dass dieses Anliegen am mangelnden Verständnis der deutschen Joachim Helfer gescheitert sei, und empfiehlt, zuerst Raschid al-Daifs Bericht zu lesen und erst danach den Kommentar des gescholtenen Joachim Helfer (taz vom 29. 12. 2006). Ich habe mich an diesen Ratschlag gehalten. Mag sein, dass Raschids Überlegungen zur Homosexualität seines deutschen Kollegen in einem arabischen Kontext riskant sind, für westliche Europäer sind sie wenig originell. Ich gab bald auf, ein Gedanke aber kam mir doch. Er bringt mich dazu, über Raschids Part in der „Verschwulung der Welt“ ein weiteres Wort zu verlieren. Es fiel mir nämlich auf, dass Raschid (und es ist nicht unsere westliche Arroganz, sondern Raschid al-Daif selbst, der sein Alter Ego beim Vornamen nennt, damit es naiver und impertinenter argumentieren kann), dass also Raschid unbedingt zu jenen Männern gehört, die das Älterwerden für eine Frau zu einer schönen Sache machen.

Als Frau kann man sein wahres Alter daran bemessen, ob man sich noch darum sorgt, gegen welche Avancen eines „Brillenträgers mit schütterem Haar und Thermoanorak“ (Kleeberg über Raschid al-Daif) man sich heute wieder zur Wehr setzen muss. Wahrscheinlich muss man die ständige Anmache erlebt haben, um den Genuss zu ermessen und das wunderbare Gefühl der Erleichterung, die mit dem Umstand einhergehen, älter und endlich in Ruhe gelassen zu werden. Und um die Wut zu ermessen, die einen früher begleitete. Unvergessen, wie ich in München mit einer Freundin den menschenleeren Altstadtring entlangfuhr und sie mich plötzlich bat anzuhalten. Wie sie aus dem Auto ausstieg, um sich vor einem unscheinbaren Männchen aufzubauen und ihn anzuherrschen, was er sich einbilde, ob er schon mal in den Spiegel geschaut habe und ob ihm das nicht zu denken gegeben habe?

Keine Ahnung, was vorgefallen war, ich weiß nur, dass ich dachte: Gott sei Dank! Gott sei Dank bin ich nicht die Einzige, die irgendwann an den Punkt kommt, an dem sie die Nerven verliert und an dem sie eine dumme Geste selbst über eine Entfernung von 20 bis 30 Metern nicht mehr ignorieren kann.

An diese Geschichte also erinnerte ich mich, als ich las, wie Raschid vor Stolz fast platzt, weil er sich so verwegen, ja geradezu avantgardistisch dabei findet, wenn er die Haare, die Brüste, die Arschbacken, ja sogar den Duft des Geschlechts der Frau aufrichtig verehrt. Und wie er deshalb keine Gelegenheit versäumt, der Welt von seiner Haltung Kenntnis zu geben, wofür er beifälligen Applaus erwartet. Etwa wenn sein aufdringlicher Blick, den er „schwärmerisch“ nennt, auf „eine schöne schwangere junge Frau“ fällt, von der er sich – wie sich herausstellt, vergeblich – vorstellt, „dass sie mich dafür dankbar anlächeln würde“. Oder wenn ihn der Anblick eines Dekolletés zu ausführlich imaginierten Handgreiflichkeiten hinreißt: „Wie konnte es sein, dass diese Brüste jemandem nicht auffielen! Sie schrieen doch förmlich nach Erlösung aus ihrer Gefangenschaft und riefen die Vorrüberkommenden um Hilfe: Holt uns hier heraus, ihr freien Menschen! Wir Araber sind ritterlich von Natur, und Ritter sind edel. Sie erlauben sich keine Zögerlichkeit, wenn es darum geht, der Unschuld und der Schönheit zu Hilfe zu eilen …“

Genug davon, ich gebe zu, meine Lektüre ist streetwise. Aber braucht es das überhaupt, um sehr wohl zu verstehen? Die erzählerischen Mittel Raschid al-Daifs zeigen überdeutlich, dass aus dem literarisch als naiv arrangierten Schwärmen kein distanziertes, ironisches Ich spricht. Sondern ein prüdes, kokettes Ich, das um Zustimmung buhlt. Was Kleeberg daran fasziniert, ist ein „Vexierspiel mit einem Ich, das viel mehr kollektive als individuelle Züge hat“. Die wichtigste Funktion dieses Kunstmittels ist die Verführung zum Einverständnis. Das gilt auch für das Hochzeitsessen für Joachim und Ingrid, das Kleeberg mit gewissem Recht für den „komisch übertriebenen Höhepunkt“ von Raschids Berichts hält. Das Essen entpuppt sich als das berühmte Angebot, das man nicht ablehnen kann, ist es doch festliche Ehrung wie Erpressung zu Wohlverhalten nach Maßgabe Raschids zugleich. Dabei setzt Raschid al-Daif seine literarische Technik so ein, dass auch der Leser ein Angebot bekommt, das er nicht ablehnen kann.

Michael Kleeberg erkennt in diesem Handwerk die literarische Meisterschaft al-Daifs. Aber sein Lob unterschätzt ihn zugleich. Denn es ist nicht wahr, dass Raschid „viel Interessantes über die Männer- und Geschlechterrollen in arabischen Gesellschaften“ preisgibt. Was er preisgibt, ist viel mehr. Es ist die altbekannte Vorstellung von Männlichkeit, die in jeder Gegend der Welt erbärmlich ist. Sie besteht im Konsens der Männer, dass Frauen ihre Beute sind. Schon auf der Straße.

In vielen Gegenden der Welt ist dieser Konsens tödlich. Und wenn die literarische Naivität erlaubt sein soll, mit der Raschid vor dem drohenden Aussterben der deutschen Gesellschaft warnt, übernehme ich gerne die Rolle der naiven Ethnologin und wundere mich ebenso über Sitten und Gebräuche. Ob sie arabisch oder westlich sind, interessiert mich dann kaum, aber ich prophezeie, dass in diesen Gegenden der Welt die Frau in 20 Jahren auf der roten Liste der gefährdeten Arten stehen wird.

Joachim Helfer jedenfalls ist zu bewundern: Er hat den Sack, den Raschid al-Daif öffnete, nicht gleich wieder zugemacht. Er hat sich – ob mehr oder weniger glücklich – dem von Raschid al-Daif angeschlagenen Thema gestellt, dem sogenannt aufgeklärte, intellektuelle Kreise im Westen regelmäßig ausweichen. Joachim Helfer wurde Vater – einer Tochter. Mag sein, dass ihn das mehr als alle Literatur und die eigene Homosexualität bewogen hat, dem edlen Ritter Raschid in die Parade zu fahren.