piwik no script img

Archiv-Artikel

Gebrochene Tabus und verführte Leser

SPURENSUCHE Ja, es geht auch um „Der Nazi & der Friseur“: Die Celler Synagoge zeigt eine Ausstellung über Edgar Hilsenrath

„In all seinen Büchern vermeidet er es, dem Ganzen einen Sinn zu geben“

Verleger Helmut Braun

Er ist fast 85, pflegebedürftig und hat sich vor einem Jahr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Auf Lesungen ist der Schriftsteller Edgar Hilsenrath, berühmt vor allem für seine grotesken Schilderungen des Holocaust im Roman „Der Nazi & der Friseur“ (1971), nicht mehr zu erleben. Dafür bietet nun eine Ausstellung in der Celler Synagoge Celle die Möglichkeit, sich auf seine Spuren zu begeben. Sie versammelt Texte, Fotos und Originalmanuskripte zum Leben und Wirken des Autors, der deutschen Lesern ohne seinen Verleger Helmut Braun vermutlich bis heute unbekannt geblieben wäre.

„Ich lernte Hilsenrath 1976 kennen“, erzählt Braun zur Ausstellungseröffnung. „Damals hatte er 60 deutschen Verlagen das Manuskript von ‚Nazi und Friseur‘ angeboten, ohne Erfolg. Das finanzielle Risiko sei zu groß, hieß es immer wieder, obwohl das Buch damals schon im Ausland mehr als eine Million Mal verkauft worden war. Ich habe es dann rausgebracht. Bis heute wurde es über 500.000 Mal auf Deutsch verkauft.“

„So geht das nicht“, so verdammte, stellvertretend für viele andere, Fritz J. Raddatz, in den 70er Jahren einer der maßgeblichen Literaturkritiker im Land, Hilsenraths Stil. „So“ – dazu gehört der Tabubruch, im Ghetto hungernde Juden als zum Wolf gewordene Menschen zu schildern, die um eine verfaulte Kartoffel kämpfen. Das könnte antisemitisch wirken, befanden die Kritiker – auch wenn der Autor stets zeigt, wer die Juden zu Wölfen macht.

„So“ – dazu gehört auch der Tabubruch, den Holocaust aus der Sicht des SS-Mannes Max Schulz zu schildern. Der hat 10.000 Juden auf dem Gewissen, lässt sich nach dem Krieg beschneiden, wandert nach Israel aus, nimmt die Identität eines seiner Opfer an – und scheint die perfekte Tarnung für ein Leben ohne Strafverfolgung gefunden zu haben. Keine Kopfgeburt: Diese Geschichte gab es wirklich. Und sie wird im Roman – erzählt aus dem Munde des sich rechtfertigenden Massenmörders – umso schmerzhafter für den Leser, den groteske Stilmittel immer wieder zum Lachen verführen.

Die seelischen Verwundungen Hilsenraths, der als Jude in der Schule in Halle/Saale regelmäßig von seinen Mitschülern Prügel kassierte und nur mit viel Glück den Holocaust überlebte, kann der Besucher der Ausstellung nur ahnen: Fotos zeigen den kleinen Edgar, wie sein Vater ihn der Belegschaft des familieneigenen Möbelhauses als künftigen Chef vorstellt. Daneben Fotos von fröhlichen Verwandtentreffen in Sereth in Rumänien, wohin sich die Hilsenraths vor der Verfolgung retten. Als erwachsener Mann ist er dann nach dem Krieg am Strand von Tel Aviv zu sehen, auf der Promenade in Nizza, im Pelzmantel in Lyon, vor einer Villa in New York oder im Café in München, mit hübschen Frauen an seiner Seite und einem ernsten Gesicht.

Was an Fotos aus der Zeit im ukrainischen Ghetto Moghilev-Podolsk fehlt, wo 40.000 Juden erschossen wurden, verhungerten, erfroren oder an Krankheiten starben und worüber in seiner Familie später niemand sprach, das beschreibt Hilsenrath umso bildreicher in seinen Romanen. „In all seinen Büchern vermeidet er es, dem Ganzen einen Sinn zu geben“, sagt Verleger Braun. „Der Shoah kann man keinen Sinn geben.“ JOACHIM GÖRES

bis 17. April, Synagoge Celle