: Stolpersteine im Bürgersteig
GEDENKEN Suche nach den ermordeten jüdischen Kindern aus Kassel
VON GABRIELE GOETTLE
„Museen und Gedenkstätten dienen dem Vergessen ebenso wie der Erinnerung.“
Claude Lanzmann
Jürgen Strube, Lehrer, Mitglied d. Vorstands im Kasseler Verein Stolpersteine e. V. Er lebt seit 1954 in Kassel, dort Schule u. Abitur. Studium d. Mathematik in Marburg. Dann Grafikdesign in Kassel, Germanistik u. Kunst (Lehramt S II). Danach Lehrer f. Kunst, Deutsch, Darstellendes Spiel in Rotenburg a. d. Fulda u. Kassel. Zurzeit passive Phase d. Altersteilzeit, ab August 2014 im Ruhestand. Engagement f. d. Stolpersteine seit 2011. Jürgen Strube wurde 1949 in Waldkappel geboren, sein Vater war kaufmännischer Angestellter, die Mutter war als Verkäuferin berufstätig, er ist seit 2010 in zweiter Ehe verheiratet und hat zwei Kinder aus erster Ehe.
Drei Reproduktionen hingen in meinem Klassenzimmer an der Wand.: Dürers „Apokalyptische Reiter“, „Die Heimkehr der Jäger“ und „Der Kindesmord zu Bethlehem“ (beide Bruegel d. Ä.). Diese Bilder habe ich über die Jahre betrachtet. Heute fiel es mir wieder ein. Auch die brutale Geschichte des bethlehemitischen Kindermordes, die im Religionsunterricht tief in unsere Kinderseelen gesenkt wurde. Sie gilt unter Christen als eine der ganz großen Gräueltaten. Merkwürdig, dass der tatsächlich geschehene Massenmord an Kindern, der der Nazis und ihrer Schergen, vergleichsweise wenig Beachtung findet. Und das, obgleich er wahrscheinlich der größte organisierte Kindermord in der Geschichte der Menschheit ist.
Unter den sechs Millionen um ihr Leben gebrachten Juden, die aus fast allen Ländern Europas in die Gettos und Vernichtungslager deportiert oder auch gleich an Ort und Stelle umgebracht wurden, waren schätzungsweise eineinhalb Millionen Kinder. Ebenso bildeten Kinder und Jugendliche einen großen Teil der bis zu zwei Millionen Opfer des Volkes der Zigeuner, die im Reich und im nationalsozialistisch besetzten Europa systematisch verfolgt, in Vernichtungslager deportiert oder in abgelegenen Wäldern aufgespürt und erschossen wurden. Und auch mindestens 50.000 geistig oder psychisch kranke Kinder wurden Opfer der „Euthanasie“. Sie wurden in sogenannten „Kinderfachabteilungen“ von Ärzten und Schwestern ermordet durch Verhungern- und Verdurstenlassen, durch Verabreichung von überdosierten Schlafmitteln, oder sie wurden in eigens eingerichteten Tötungsanstalten vergast. Kinder waren 1939 die ersten Opfer der „Euthanasie“, sie wurden auch nach dem offiziellen Abbruch der Aktion 1941 weiterhin ums Leben gebracht.
Herr Strube erzählt, wie er zu den Stolpersteinen kam und wann er auf die vergessenen Kinder aus Kassel stieß.
Der Anonymität entreißen
„Ich beschäftige mich einerseits mit den Stolpersteinen, vor allem aber mit Recherchen zu den Opfern, die ja jeder Verlegung vorausgehen. Anfangs standen die Kinder noch nicht im Blickpunkt, während sie heute meine Hauptbeschäftigung sind. An dieser Stelle möchte ich gleich ausdrücklich sagen, ich mache das nicht allein, es gehören noch zwei Menschen dazu, die mit mir zusammen die Daten erforschen. Und wir haben natürlich auch einige renommierte Historiker mit Doktortitel und allem, die sich da auskennen.
Worum es uns geht, ist schnell gesagt: Wir möchten die Opfer der Anonymität und dem Vergessen, so gut es geht, entreißen. Ich nehme an, die Stolpersteine sind inzwischen gut bekannt? Wenn nicht: Sie bestehen aus einem Beton-Kubus, der mit einer massiven Messingplatte überkront und 10 mal 10 Zentimeter groß ist. Alles wird liebevoll in Handarbeit hergestellt, der Bildhauer Friedrichs-Friedländer in Berlin schlägt jeden einzelnen Buchstaben in die Messingplatte ein. Da steht dann etwa drauf: Hier wohnte … geboren am … deportiert nach … ermordet. Die Steine werden plan verlegt – denn die Passanten sollen ja nicht wirklich stolpern –, in der Regel ins Pflaster vor dem Eingang des letzten frei gewählten Wohnhauses. So wird auch klar – was ja oft geleugnet wurde – dass die Deportationen sichtbar, vor aller Augen, inmitten der Nachbarschaft vonstatten gingen.
Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig, er verlegt sie auch bis heute meist noch selbst. Damals, 1992, zum 50. Jahrestag von Himmlers ‚Zigeuner bzw. Auschwitz-Erlass‘ vom 16. Dezember 1942, hat er in Köln vor dem Rathaus seinen ersten Stein verlegt, um an die Folgen dieses Erlasses und an die 1.000 Menschen zu erinnern, die damals allein aus der Stadt Köln deportiert und größtenteils ermordet wurden. Ebenso hat er dann Stolpersteine für verfolgte, deportierte und ermordete jüdische Mitbürger hergestellt. Demnig verlegt seit 1995 illegal und seit 1997 mit behördlicher Genehmigung seine Gedenksteine. Inzwischen sind es, glaube ich, mehr als 35.000.
Ich bin in der Altersteilzeit seit drei Jahren und hatte plötzlich viel Zeit. Meine Fächer waren Kunst, Deutsch und das darstellende Spiel. Bei der Unterrichtsgestaltung war ich immer auch an den politischen Aspekten interessiert, habe mit meinen Schülern beispielsweise mal ein Arrabal-Stück inszeniert, das den Franco-Faschismus thematisiert, habe auch mit meinen Deutschklassen Jugendbücher über die NS-Zeit gelesen, politische Plakate produziert, zum Beispiel zu Mölln. Stärker noch haben mich aber die allgemeinen aktuellen Themen beschäftigt. Erst später bin ich eigentlich wieder auf die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 zurückgekommen und habe erkannt, wie ‚unbewältigt‘ sie ist und dass man sich damit unbedingt befassen muss. Den Anstoß gegeben haben zwei, drei Leute. Eine Freundin meiner Frau erzählte, sie machen eine Stolperstein-Verlegung, und ich bin mitgegangen. Bin dann auch zu den Sitzungen der Stolperstein-Initiative, fand die aber eher chaotisch. Es gab keine richtige Struktur in der Arbeit, ich wusste eigentlich nicht, was ich da sollte. Ich bin aber trotzdem geblieben, obwohl zwei Leute, mit denen zusammen ich zum jüdischen Altersheim forschen wollte, nach der zweiten Sitzung sagten, sie hätten nun doch keine Lust mehr. Es hat sich dann aber geändert, und im Mai 2012 wurde aus dieser Initiative heraus der Verein Stolpersteine, Kassel e. V. gegründet. Heute sind wir 46 Leute und haben viel gelernt.
Aufmerksamkeit erreichen
Bis vor zwei Jahren durften wir in Kassel keine Stolpersteine verlegen auf öffentlichen Straßen. Die Jüdische Gemeinde hatte sich der Kritik von Frau Knobloch, der Präsidentin der Jüdischen Kultusgemeinde München, angeschlossen – in München gibt es bis heute keine Stolpersteine. Sie sagt, das mit den Stolpersteinen sei unwürdig, denn die werden angespuckt, mit Füßen getreten, die Hunde pinkeln drauf.
Darüber muss man reden, natürlich. Aber das ist nun wirklich nicht die Intention der Stolpersteine. Die Intention ist, eine Spur sichtbar zu machen … wie eine unsichtbare Fußspur. Diesen Stein direkt vor der Haustür in den Weg zu legen, das ist etwas, das die Blicke auf sich zieht, uns zum Lesen bringt. Mit so einer unscheinbaren Tafel irgendwo am Haus würde man diese Aufmerksamkeit nie erreichen. Inzwischen haben wir hier aber Überzeugungsarbeit geleistet, und es hat sich entspannt. Ich bin ja Atheist, aber ich respektiere den Glauben anderer natürlich. An jüdischen Feiertagen zum Beispiel verlegen wir nicht. Die zwei Leute übrigens, mit denen ich arbeite, sind beide Juden, der eine arbeitet auch in einer jüdischen Gemeinde mit – nicht in der Kasseler allerdings.
Mittlerweile haben wir in Kassel 30 Stolpersteine verlegt. Sie sind übrigens meist auf Spendenbasis finanziert, durch einen Paten oder eine Patin. Sie kosten 120 Euro, inklusive Verlegung. Die Recherche ist kostenlos. Auf den Messingplatten stehen nur in aller Kürze die Daten, deshalb haben wir seit ein paar Monaten eine Homepage: www.stolpersteine-kassel.de. Die Website habe ich aufgemacht, das ist zwar viel Arbeit so eine Seite, aber es ist schön, wenn das dann allmählich Gestalt annimmt. Dort jedenfalls haben wir etwas, wir nennen es ‚Gedenkblätter‘, auf denen ist Genaueres zu erfahren über jedes der Opfer, oft mit Fotos, wenn wir welche haben. Diese Gedenkblätter werden als Faltblatt auch vor der Verlegung und während der Verlegung der Steine von uns in der Nachbarschaft und an Passanten verteilt, damit die Leute teilnehmen und wissen, für wen der Stein verlegt wird. Es ist schon etwas anderes, wenn man dann vor so einer Haustür steht, durch die die Menschen ein letztes Mal gegangen sind … weil man sie zur Flucht ins Exil genötigt hat, zur Deportation abgeholt hat. Manche wurden aber auch herausgetragen, weil man sie zur ‚Flucht in den Tod‘ getrieben hat – wir nennen das so und sprechen mit Absicht nicht von ‚Selbstmord‘.
Wir haben zum Beispiel letztes Jahr für den Arzt Felix Blumenfeld einen Stein verlegt. Seine Enkel leben in Kalifornien, sie sind rübergekommen zur Verlegung. Wir versuchen ja auch immer die Kontakte mit den Angehörigen zu pflegen, das ist sehr wichtig für uns und oft auch für die Angehörigen. Für Felix Blumenfeld gibt es zwar viel an Erinnerung, Erinnerungsplaketten, eine Straße ist nach ihm benannt, ein Saal im Krankenhaus, aber wir haben trotzdem für ihn einen Stein verlegt, auch weil die Angehörigen das gerne wollten. Felix Blumenfeld wurde 1873 in Gießen geboren, nach dem Medizinstudium ließ er sich mit einer eigenen Praxis in Kassel nieder und hat sich neben seiner Praxisarbeit sehr engagiert für die Kinder von armen Familien in der Stadt, hat eine Milchküche aufgemacht, die sogar zum Vorbild wurde für andere deutsche Städte. Er gründete ein Mütterheim und ein Kinderkrankenhaus.
Wir haben Leute gefunden, die haben erzählt, wie er sie selbst oder ihre Geschwister behandelt hat, kostenlos. 1933 wurde ihm die Leitung des Krankenhauses entzogen, er bekam Berufsverbot, sein Haus und sein Vermögen wurden ihm weggenommen, und nur weil seine zweite Frau keine Jüdin war, kam es nicht gleich zum Schlimmsten. Man setzte ihn aber stark unter Druck, sich scheiden zu lassen. Seine beiden Söhne konnten 1938 in die USA emigrieren, sie nannten sich dort Bloomfield. Im Alter von fast 70 war er dann gezwungen, vom Schrott- und Lumpensammeln zu leben. Am 25. Januar 1942 hat er sich umgebracht. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, der ist durch unsere Recherche wieder aufgetaucht, nachdem er lange Zeit verschollen war. Dieser Brief ist erschütternd, er beschreibt die alltäglichen Schikanen und die permanente Bedrohung. Das konnte er einfach nicht mehr aushalten.“
Zwei Zitate aus diesem Brief vom 18. 1. 1942:
„Gestern Abend stand ich gegen 6 Uhr an der Bordschwelle vor dem Bankhaus Wertheim am Königsplatz, um nach der Trambahn Ausschau zu halten. Da kam ein jüngerer Mann auf mich zu, dessen anständiges Außenkleid die innere Frechheit und Gemeinheit nicht vermuten ließ, an dessen Ausdrucksweise man aber den Sendboten der Gestapo erkennen konnte. Er schnauzte mich an (durch den gelben Stern ist man ja sichtbar gemacht). ‚Was stehst Du da? Mach Dich sofort runter vom Trottoir, Du Schwein!‘ Als ich ihn ganz erschrocken ansah, sagte er: ‚Ja, Du bist gemeint, guck nicht so frech und mach, dass Du weiterkommst.‘ Kopfschüttelnd ging ich weiter und hörte nicht mehr, was er nachrief. Nur da ist niemand da, dessen gerechtes, menschliches Empfinden stärker wäre als die Angst.“
„Wer weiß, wie lange dieser Krieg noch dauert, und was bis dahin für die Juden in Deutschland passiert, ist kaum auszudenken. Man wird vor keinem Mittel der Vernichtung zurückschrecken. Da ist es hoffentlich auch im Sinne meiner Söhne ehrbarer und charaktervoller, von der Bildfläche zu verschwinden und lieber freiwillig als ein Toter das Haus zu verlassen, als von Schergen der Gestapo hinausgejagt zu werden. Ihr und ich gehören uns immer und ewig. Vater“ Der Brief umfasst drei eng beschriebene Seiten in Sütterlinschrift.
Herr Strube erzählt weiter: „Er wurde von unserem Ersten Vorsitzenden Herrn Boczkowski und dem Historiker Hans-Peter Klein in die heutige Schrift übertragen – und ins Englische, damit auch die Bloomfields in Amerika ihn lesen können.
Ehrlich gesagt, ich bin immer wieder erschüttert von den einzelnen Schicksalen. Man muss ja eigentlich sagen, gewaltsam verhängten Schicksalen, denn ihr Leben wäre normalerweise ganz anders verlaufen. Und nun auch noch die Kinder! Die Schicksale der Kinder werden oft gar nicht beachtet. Das ist schlimm, denn die Kinder waren mit die ersten, die von den rassistischen Maßnahmen betroffen waren. In Kassel haben wir so in etwa 2.000 Schicksale von Erwachsenen dokumentiert, in Kurzform, das war ein Gedenkbuchprojekt und wurde von der Stadt mal in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts finanziert: ‚Namen und Schicksale der Juden Kassels von 1933–1945‘. Angeregt haben das damals Krause-Vilmar und Kammler, zusammen mit ihren Studenten haben sie nachgeforscht und alles erarbeitet. Ich habe jetzt gerade Kontakt aufgenommen zu Unis, ich versuche die Professoren dazu zu überreden, dass diese Thematik wieder in den Lehrveranstaltungen auftaucht, dass sie ihre Studenten motivieren, vielleicht auch zur Mitarbeit bei der Recherche. Zwei Professoren haben sich bis jetzt bereit erklärt, was zu machen. Damals jedenfalls ist von der Vilmar-Gruppe auch eine Liste angelegt worden mit den Namen von 125 minderjährigen Opfern, die ganz in Vergessenheit geraten ist.
Die unbekannten Kinder
Irgendwann hatte unser Erster Vorsitzender bei einer Sitzung diese hektografierte Liste in der Hand, und er fragte, wer sich darum mal kümmert möchte. Aber das wollte niemand. Am Ende der Sitzung sagte ich: Gib’s mir doch mal mit. Zu Hause habe ich mich hingesetzt und überlegt, wie ich das mache. Ich hatte bis vor zwei Jahren noch nie etwas mit einem Archiv zu tun, inzwischen habe ich zwar eine Menge gelernt, mache aber immer noch Fehler. Oft ist die Suche mühsam, bisweilen ergebnislos. Da gibt es beispielsweise das Archiv in Bad Arolsen, ein hessisches Dokumentationszentrum der NS-Verbrechen zur Klärung der Schicksale von NS-Opfern und deren Angehörigen, auch für die Zwangsarbeiter übrigens. Aber bedauerlicherweise bin ich da bei vielen Kindern nicht fündig geworden, oder wenn, dann nur in Form des Namens, der auf einer Deportationsliste verzeichnet ist. Es gibt auch eine Website namens Hassia Judaica, die sich dem jüdischen Kleinstadt- und Landleben in Hessen widmet, da habe ich ein Foto gefunden von einem der Opfer. Das ist einerseits viel, zugleich aber wenig.
Ich habe mal darüber nachgedacht, es gibt da irgendwie ein Gefälle, was die Opfer betrifft. Einmal ein soziales – also dass über Personen mit vormals angesehener Stellung in der Gesellschaft viel dokumentiert ist an Bildern und Schriftlichem, während von den ‚einfachen‘ Menschen und Familien oft nichts übrig geblieben ist, außer einem knappen Akteneintrag. Und dann gibt es noch ein Altersgefälle: Von den Kindern weiß man am allerwenigsten.
Auch deshalb bemühen wir uns so. Inzwischen hat die Liste an Umfang zugenommen, 180 Fälle sind es nun. Auf unserer Webseite bin ich gerade dabei, eine Nebenseite mit den Kinderdaten anzulegen, erst mal kurz, in Tabellenform. Die ist aber noch gesperrt, weil sie sich im Aufbau befindet. Die Suche ist, wie gesagt, nicht einfach. Auch mit Schulunterlagen steht es schlecht. Jüdische Kinder sind dann ja der Schulen verwiesen worden. Ebenso wie die Kinder der Roma- und Sinti-Familien übrigens, aber über diese Opfer haben wir anscheinend keine Unterlagen in Kassel, deshalb gibt es hier auch bisher keinen Stolperstein. In einigen anderen Städten gibt es welche, so in Köln, Hamburg, Hannover, Osnabrück. Ich habe hier schon immer mal recherchiert, aber ich bin, wie gesagt kein Historiker.
Zurück zu den jüdischen Kindern, wir haben Fälle, die in Waisenhäusern und Heimen untergebracht waren, von denen haben wir oft nur die Namen. Es gibt Kinder, die in Heimen ermordet wurden, die deportiert wurden und verschollen sind. Im Extremfall waren die zwei Jahre alt. Die Schicksale von einigen Älteren allerdings sind manchmal ganz gut dokumentiert. Ich habe dann nachgeforscht, in Jad Vaschem – wo es ein Children’s Memorial gibt –, im Bundesarchiv, in den Adressbüchern von Kassel haben wir versucht herauszufinden, wo sie gewohnt haben mit ihren Angehörigen. Nur, es gab ja Kinder, die haben nur die sogenannten Judenhäuser erlebt, diese Zwangsunterkünfte, in denen man jüdische Familien zusammengepfercht hat, nachdem man ihnen ihre Wohnungen weggenommen hatte. Die Familien sind da eingewiesen worden und hatten keine Wahl. Es war natürlich nicht ihre letzte frei gewählte Adresse und somit auch nicht die der Kinder. Und dann stießen wir darauf, dass einige der Kinder Euthanasiefälle sind, da haben wir so etwa 15 bis 20, in der Regel sind das jüdische Opfer. Da haben wir dann auch individuelle Akten, die sind bei den Krankenakten, ist alles natürlich voll mit Lügen und rassistischen Beurteilungen.
Manchmal, wie in diesem Fall, finden wir auch die Namen der Eltern und bekommen Akten, aus denen sich das Schicksal rekonstruieren lässt. Da hat uns die Gedenkstätte Breitenau sehr geholfen. Ihr Mitbegründer und Leiter, Gunnar Richter – ein Schüler übrigens von Krause-Vilmar –, ist auch Mitglied in unserem Vorstand. Diese Gedenkstätte ist wichtig, sie liegt hier ein paar Kilometer vor Kassel und spielte eine zentrale Rolle beim Aussondern und Inhaftieren von rassisch und politisch missliebigen Personen in Nordhessen. Das ist eine große alte Anlage, ein mittelalterliches Kloster, seit dem 19. Jahrhundert ist es ein Arbeitserziehungshaus, die Nazis nutzten es dann als Konzentrations- und Sammellager, nach dem Krieg wurde es eine geschlossene Erziehungsanstalt für Mädchen bis zur Schließung 1973. Heute ist dort eine psychiatrische Einrichtung und die Gedenkstätte Breitenau.
Der Fall Helmut Wurr
Ich beschäftige mich ja jetzt mit dem Fall dieses Jungen, Helmut Wurr. Aus der Gedenkstätte Breitenau bekamen wir die Akte der Mutter. Sie war dort damals eingeliefert worden. Es ist mir wichtig, hier ausdrücklich zu erwähnen, dass Frau Hartmann-Menz aus Elz – einem Nachbarort von Hadamar – unabhängig von unseren Kasseler Initiativen seit längerer Zeit an dem Fall Wurr arbeitet. Unsere unterschiedlichen Ansätze haben sich gekreuzt, und wir arbeiten uns auch gegenseitig zu.
Ich war kürzlich im Archiv der Gedenkstätte Hadamar, dort werden 7.000 Opferakten aufbewahrt, sieben davon habe ich durchgelesen. Zwischen Einlieferungs- und Todesdatum liegen fast immer nur 14 Tage. Die Todesursachen lauten stereotyp: Lungenentzündung, Entkräftung, Darmkatarrh.
Vielleicht ist es am anschaulichsten, wenn ich Ihnen die Geschichte – soweit wir sie bis jetzt erschließen konnten – einfach mal kurz erzähle? Ich muss aber dazu immer mal in meine Aufzeichnungen schauen, also: Helmut Wurr wurde am 7. Oktober 1933 in Kassel geboren. Sein Vater war Ingenieur und evangelisch, seine Mutter war jüdischen Glaubens. Nachdem der Vater starb – vermutlich als Soldat an der Westfront –, verlor die Mutter ihren relativen Schutz einer ‚privilegierten Mischehe‘ und wurde in das Konzentrations- und Arbeitserziehungslager Breitenau eingewiesen. Im August 1942 hat man sie dann in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück deportiert.
Das Kind Helmut Wurr war als Halbwaise in die ‚Obhut‘ eines Heimes übergeben worden. Und obwohl ihm zuvor in der Volksschule gute Leistungen und gutes Benehmen attestiert worden sind, ist in der Heimakte viel über seine sozusagen typisch jüdischen schlechten Charaktereigenschaften zu lesen.
Für das Amtsgericht Kassel stand fest, dass Helmut Wurr ein ‚seelisch verwahrlostes Kind‘ ist, und es erfolgte, nach dem ‚Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt‘, eine Einweisung in die Fürsorgeerziehung. Der entsprechende Beschluss ergeht am 1. Juli 1942. Knapp vier Wochen zuvor war seine Mutter in Ravensbrück selektiert und im Rahmen der ‚Aktion 14f 13‘ (Aktenkürzel f. ‚Sonderbehandlung‘, Anm. G. G.), in die Tötungsanstalt Bernburg an der Saale deportiert und dort am 6. Juni 1942 ermordet worden. Helmut Wurr, inzwischen Vollwaise, wurde aufgrund des Amtsgerichtsbeschlusses am 8. Oktober 1942 in das Landeserziehungsheim Homburg überwiesen, wo er fast ein Jahr lang blieb.
Dort heißt es in der Akte: ‚Helmut macht einen frischen, netten Eindruck. Er ist freundlich, hilfsbereit und weiß sich zu benehmen. Geistig ist er rege und vielseitig interessiert.‘ Es wird ihm aber auch ‚fehlende Offenheit‘ und eine ‚Zweckhaltung‘ unterstellt, auch hier fehlt es nicht an Anspielungen auf seine halbjüdische Herkunft. Anfang Oktober 1943 erfolgte dann plötzlich die Verlegung Helmuts in das Erziehungsheim Hadamar. Sämtliche notwendigen Papiere, Impfbescheinigungen und Dokumente, bis hin zur ‚Abmeldung von der Seifenversorgung‘, werden sorgfältig in der Akte abgeheftet, so als sei diese ‚Verlegung‘ ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Auffällig ist, dass der Kostenstelle in Kassel schriftlich mitgeteilt wird, Helmut – der ja zuvor durchgängig als geistig gesund bezeichnet wurde – sei wegen ‚Geisteskrankheit‘ nach Hadamar verlegt worden.
Das nächstes Dokument in der Akte ist eine handschriftliche Notiz. Sie besagt, dass der am 1. Oktober 1943 aufgenommene Helmut Wurr am 10. Oktober an Darmentzündung mit ‚hohem Fieber‘ erkrankt sei. Für den 12. Oktober 1943 wird ‚Exitus‘ an ‚Enterokolitis‘ um 4.30 Uhr am Morgen vermerkt. Natürlich liegen keinerlei Krankenberichte und Fieberkurven bei. Tatsächlich wurden die eingewiesenen Kinder und Jugendlichen durch ‚Abspritzen‘ mittels einer Überdosis von Morphium-Scopolamin ermordet, und zwar vom Pflegepersonal. Ihre Beisetzung fand – wie man den Angehörigen mitteilte – ‚in aller Stille‘ auf dem Anstaltsfriedhof statt. Helmut Wurr ist eines der etwa 40 sogenannten ‚jüdischen Mischlingskinder‘, die in diesem 1943 eigens für den Zweck der Ermordung eingerichteten ‚Erziehungsheime‘ in Hadamar ums Leben gebracht wurden, weil ihnen, als ‚rassisch Minderwertige‘, die ‚Zuteilung staatlicher Leistungen‘ per Gesetz entzogen worden war.
Willige Vollstrecker
In dieser kurzen Biografie von Helmut Wurr spiegelt sich das mörderische, auf Rassismus gegründete System des NS wider. Dabei ist Helmut Wurr nicht einmal ein Opfer der ‚Aktion T4‘ geworden, er ist auch nicht der Opfergruppe aus den sogenannten Kinderfachabteilungen zuzuordnen, in denen vorgeblich ‚erblich Belastete‘ systematisch getötet wurden. Seine Ermordung erfolgte ‚nur‘ aus ökonomischen Gründen, auf die informelle Anweisung hin, die die Schreibtischtäter des Bezirksverbands Nassau gegeben haben.
In der Mordanstalt Hadamar fanden sich dann im medizinischen Personal willige Vollstrecker, wie überall. Helmut Wurr und die anderen minderjährigen Opfer wurden durch dieses Anstaltspersonal gewissenlos und planvoll getötet, weil die NS-Ideologie im Rahmen der ‚Fürsorgeerziehung‘ die Zuteilung staatlicher Leistungen ausschließlich den ‚rassisch Höherwertigen‘ zugeteilt hat. Sein Schicksal zeigt auch, dass die Täter im ‚Fürsorgesystem‘ des NS in sämtlichen Bereichen widerspruchslos und planvoll ökonomische und ‚rassische‘ Selektion durchführten, bis hin zur letzten Konsequenz, dem Mord.
Für Helmut Wurr und seine Mutter werden wir in diesem Herbst zwei Stolpersteine verlegen. Worum es mir geht, ist, dass wir den Kindern nach und nach ein Gedenken schaffen.“
Der SWR II macht seit November 2013 ein Hörfunkprojekt. Es berichtet über die Schicksale der Menschen, die auf den Stolpersteinen genannt werden.