: Hommage an die Rebellen
Die Mülheimer Vocal-Tage widmen sich in diesem Jahr den musikalischen Lebenskünstlern. Eine Hommage an die legendären Sänger Rio Reiser, Nico, Adriano Celentano und Jacques Brel
VON PETER ORTMANN
Nach dem anarchischen Kampf ums Trojanische Boot bei der RuhrTriennale war die Luft aus den Blasinstrumenten gewichen. Das Wiener Bläserseptett Mnozil Brass ging mit ihrem Programm „Seven“ auf Tour. 130 Konzerte in mehr als 20 Ländern. Im Dezember pustete die Chaostruppe zwischen Fukuoka und Osaka den Japanern noch das Sushi vom Teller, Weihnachten waren sie natürlich zurück in der Heimat. Im neuen Jahr sind sie im Ruhrgebiet. Mit einem neuen Programm. Sie eröffnen mit Enthusiasmus und der notwendigen Portion Atemluft am Freitag in der Mülheimer Stadthalle die diesjährigen Vocal-Tage, obwohl bei ihnen kaum Blech geredet, lieber geblasen wird. Bei „Das Gelbe vom Ei“ wühlen sie sich durch das Repertoire der vergangenen 14 langen Jahre.
Legendär und heiser
Im Programm „Legendäres Lied.Gut“ widmet sich der Ringlokschuppen den Lebens- und Ausnahmekünstlern und ihren Nachwirkungen aufs Musikbusiness. In Erinnerung oder als Hommage: Der König von Deutschland Rio Reiser, der, wenn er noch leben würde, alle Media-Märkte kaputt machen würde. Das Kölner Modell Christa Päffgen, die als femme fatale Nico auch heute noch jeden Sunday Morning in die Ruhrgebiets-Factorys gepasst hätte.
Aber auch lebende Legenden deutschen Lied.Guts kommen in die zukünftige Europäische Kulturhauptstadt. Hannes Wader hat ein Publikum, das mehrere Generationen vereint. Seit Ende der 1960er ist der Liedermacher unterwegs. Beim Konzert stellt Wader seine neue CD „Mal angenommen“ vor. Auch er zupft altvertrautes oder lange nicht Gehörtes: politisch, persönlich, mal heiter, mal melancholisch, mal sachte, mal zynisch, mal böse. 2007 scheint wohl das Jahr der Best-Of‘s zu werden. Geiz ist eben geil oder saublöde. Sabahat Akkiraz ist eine der bedeutendsten Vertreterinnen der Sparte „Ethnomusik“. Über Jahre hinweg hat sie traditionelle Melodien aus allen Regionen der Türkei zusammengetragen. Zusammen mit der Popette Betancor und Gilla Cremer, die an die große Hildegard Knef erinnert, erfüllt Akkiraz die paritätische Frauenquote bei den Vocal-Tagen, wenn auch nur deshalb, weil die Schauspielerin Xenia Snagowski in ihrem furioser Nico-Monolog die Sphinx aus Eis wieder auferstehen lässt.
Der einsame Rebell
Highlight bleibt der einsame Rebell. Im Hamburger Schauspielhaus sind sie immer ausverkaufter Kult: Jan Plewka und seine Band „Schwarz-Rote Heilsarmee“ mit ihrem Rio Reiser-Programm. Die Reminiszenzen an den Frontmann der „Ton, Steine, Scherben“ (die gab es von 1970 bis 1985 und sie mussten sich auflösen, weil niemand sie für Auftritte ordentlich bezahlen wollte, wär ja sonst kapitalistisch gewesen) gehen weit über ein bloßes Konzert hinaus. Ungeheuer liebevoll verkörpert Plewka – ansonsten Frontmann von Selig – den zarten, rebellischen Träumer Reiser, der auch als Solokünstler mit gebrochener Stimme heiser seine Sehnsüchte herausschrie.
Die heiseren Brüller
Auch der viel zu früh verstorbene Jacques Brel erzählte mit großen Gesten von der Liebe und vom Tod, klagte über Einsamkeit und Verlust und schimpfte voller Zorn über Bigotterie und Bourgeoisie. An ihn erinnert beim Lied.Gut in Mülheim Klaus Hoffmann, der in den 1960ern in Berliner Szene-Kneipen mit dem Singen begann und der vor Weihnachten behauptete, Männer hätten Angst vor Frauen. Die hatte Adriano Celentano wahrscheinlich nie. „Una festa sui prati“ – unter dieses Motto hat Konrad Beikircher, der in Südtirol geborene Rheinland-Kabarettist, sein Programm gestellt, denn er fühlte sich in der Zeit, als Klaus Hoffmann mit dem Singen begann, eher Celentanos Bewegung der „urlatori“ (Brüller) verbunden. Der habe mit den ersten italienischen Rock‘n‘Roll-Liedern sein Herz getroffen und seine Hände vor Aufregung feucht werden lassen. Man kauft also lieber Karten ab der dritten Reihe oder Konrad Beikircher besucht Samstag Mnosil Brass, die ihre Ventile glühen lassen, bis die Instrumente um Gnade winseln und die Stimmbänder in der untergehenden Abendsonne flattern. Das trocknet sogar Beikirchers Hände wieder.
Lied.Gut/ Vocal-Tage 200712. Januar bis 28. AprilRinglokschuppen, MülheimInfos: 0208-993160