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Archiv-Artikel

„Reflektionen über Sprache“

SOIREE Heiner Boehncke stellt die Schriftsteller des französichen „Oulipo“ vor – mit Schreibwerkstatt

Heiner Boehncke

■ 70, Publizist und Professor für Vergleichende und Allgemeine Literaturwissenschaft in Frankfurt und Bremen.

taz: Herr Boehncke, Journalisten schreiben unter Druck. Nun sagen Sie, darin läge ein ästhetischer Gewinn?

Heiner Boehncke: Beim Kommentar, z.B., unterliegen Journalisten einer bestimmten Form, die sehr mit Zwang verbunden ist. Das kann helfen, ästhetische Fähigkeiten zu mobilisieren. Manchmal gelingt es, manchmal ist es schrecklich. Die französische Schreibbewegung „Oulipo“ (von „ouvroir de littèrature potentielle“), die sich in den 1960er gründete und bis heute aktiv ist, hatte den Einfall, dass alle Schreibformen, Gedichte oder Prosatexte, nur unter bestimmten Regeln funktionieren.

Wie kann ich mir das vorstellen?

Beim Gedicht ist das Reimschema vorgegeben, aber es gibt ganz viele Formen der Literatur, die sich unterschiedliche Regeln auferlegen: etwas das Anagramm oder verschärft das Palindrom, wo man einen Satz oder ganzen Text von hinten lesen kann und er dennoch Sinn ergibt. Autoren der Oulipo, wie Raymond Queneau, Georges Perec oder Eugen Helmlé verschrieben sich solchen Formzwängen. Das ist an sich nicht neu: Im Barock etwa gab es Bücher ohne den Buchstaben „R“. Es ist etwas sportliches dabei.

Eine reine Sprachspielerei?

Perec hat einen ganzen Roman ohne den Buchstaben „E“ geschrieben – „La Disparition“, auf Deutsch: „Anton Voylz Fortgang“. Er handelt vom Verschwinden, vom Sterben, von der Vernichtung und verzichtet dabei auf den allerwichtigsten Buchstaben. Das thematisiert den Mangel und das Fehlen und ist keine Spielerei.

Inwiefern kann man die Kunst des Oulipo als eine politische begreifen?

Französische Intellektuelle sind meist sowieso kritisch und links, so ist es auch bei den Autoren des Oulipo. Die Texte sind immer Reflexionen über die Sprache, Reflexionen über das angewandte Verfahren. Wenn man das „E“ im Deutschen weglässt, bleiben nur noch Kommando-Worte übrige: „Hau ab“, „Marsch“, „Vorwärts“. Insofern ist es sehr politisch, es regt das Nachdenken über die Sprache ungemein an.  Interview:Jean-Philipp Baeck

20 Uhr, Gästehaus der Uni, Teerhof