ORTSTERMIN: ALTKANZLER SCHRÖDER WIRD IM SPD-WAHLKAMPF VON DER LEINE GELASSEN
: Der Gerd, der Olaf und kein Traum

Hungrig sollten Journalisten sein, immer auf der Suche nach der Story. Keinen Satz dürfen sie verpassen, jedes Wort müssen sie auf das Gewicht abwägen, das ihm beizumessen sein könnte, jede Mimik, jede Gestik sollen sie im wachsamen Auge haben.

Und dann gibt es Situationen, da fallen einem die Augen zu – und man stellt fest, dass man so mehr sieht. Und mehr hört. Und sie spürt, die Gegenwart eines der Großen in der jüngeren deutschen Geschichte, eines Staatsmannes von Rang, der mit sonorer Stimme den Weltenlauf erklärt, und man denkt, wie übersichtlich und auch unterhaltsamer das doch war damals, als der Hannoveraner noch das Sagen hatte und nicht Kohls Mädchen und ihr blau-gelber Vize.

Gerhard Schröder war da, in Hamburg, am gestrigen Mittwoch, „um was für meinen Freund Olaf Scholz zu tun“, der im zweitkleinsten deutschen Bundesland schon bald als SPD-Bürgermeister regieren möchte. Und deshalb ist „der Gerd, mit dem ich lange und gut zusammengearbeitet habe“, wie Scholz es sieht, von der Leine an die Elbe geeilt, ins Radisson Blu am Dammtor, und erklärt im gediegenen blau-grauen Design des Saals „New York“ vor 140 Führungskräften aus Hamburger Unternehmen die Welt.

Das mit der Weltwirtschaftskrise, die ja an der Wall Street in New York begann, das mit der Griechenlandkrise und auch das mit der Eurokrise. Und dass die Stabilisierung der Währung Voraussetzung sei für europäische Einheit, denn politische Strukturen würden den finanziell-ökonomischen Zwängen über kurz oder lang immer folgen müssen.

So ist das also, denkt man da. Form follows function, Überbau auf Basis, Topf auf Deckel – das ginge ja auch mit dem Nordstaat. Die Wirtschaft geht voran und pfeift, wenn wir hinterherhecheln sollen. So machen große Männer Politik, schau einer an.

Und wenn man das auf Hamburg herunterbreche, komme man zu der Einsicht, dass „der Olaf“ völlig zu Recht „Industriepolitik auch und gerade als Hafenpolitik“ begreife, sagt Schröder, und erntet Applaus der Nadelstreifenträger im Publikum.

Und „der Olaf“ sagt, deshalb sei er ja für die Elbvertiefung, welche der schwarz-grüne Senat so stiefmütterlich behandelt habe. Mit Nachdruck werde er das ändern. Denn dass CDU-Bürgermeister Christoph Ahlhaus – und es klang ein wenig so, als hätte er „mein Amtsvorgänger“ gesagt, aber das war gewiss geträumt – die Elbvertiefung kürzlich „zur Chefsache ernannt hat, belegt doch nur, dass vorher viel schief gelaufen ist“.

Und einer darf in einer Nebenrolle debütieren auf dem Podium, Frank Horch, der bisherige Präses der Hamburger Handelskammer, den Scholz zum Wirtschaftssenator machen will. Und der bis vor kurzem oberste Repräsentant der hanseatischen Pfeffersäcke ist so aufgeregt, dass er kaum einen Satz zu Ende bringt und den Gaststar mehrfach mit „Herr Bundeskanzler Schröder“ anspricht, und hätte er „Sire“ hinzugefügt, wäre das kaum komischer gewesen.

Und dann macht man die Augen wieder auf und stellt fest, dass es doch kein Traum gewesen ist. Er ist leibhaftig da, „der Gerd“, „der Genosse der Bosse“. Und dann denkt man: „Ich will hier raus.“ SVEN-MICHAEL VEIT