: Die studierten Herren vom Überraschungsteam
COSTA RICA Die Gruppe mit England, Italien und Uruguay gewonnen, die Griechen nach Hause geschickt. Das mittelamerikanische Land kommt aus dem Träumen gar nicht mehr heraus
VON ROLAND BERENS
BERLIN taz | Der Schock saß. Mit klaren Siegen gegen die USA und Mexiko hatte sich Costa Rica vorzeitig für die WM qualifiziert, der kolumbianische Trainer Jorge Luis Pinto war zum Nationalhelden geworden – und dann das. Die Auslosung. Costa Rica in einer Gruppe mit Italien, England und Uruguay. Ans Weiterkommen mochte in Costa Rica keiner mehr glauben. Nur Trainer Pinto ließ trotzig verkünden, er fahre nicht nach Brasilien, um nach der Vorrunde wieder die Heimreise antreten zu müssen.
Heute wissen wir, dass er das ernst meinte. Costa Rica ist die größte Überraschung der WM. Gegen Uruguay und Italien wurden überzeugende Siege eingefahren und nach dem 0:0 gegen England im letzten Gruppenspiel sicherten sich die Mittelamerikaner den Sieg in der schweren Gruppe D. Nach dem Achtelfinal-Drama gegen Griechenland mit Spiel in Unterzahl und abschließendem Elfmeter-Krimi steht das kleine Land im Viertelfinale.
Das ist umso höher zu bewerten, da Trainer Pinto vor dem Turnier diverse Hiobsbotschaften zu verkraften hatte. Die beiden Leistungsträger Álvaro Saborio, costa-ricanischer Torschützenkönig in der Qualifikation, und Mittelfeldstar Bryan Oviedo, Stammspieler beim FC Everton, fielen durch Knochenbrüche für die WM aus. Trainer Pinto setzte deshalb im Sturm ganz auf den jungen Joel Campell und den erfahrenen, jedoch oft unbeständigen Bryan Ruiz und beorderte den Mainzer Verteidiger Junior Díaz ins defensive Mittelfeld.
In Costa Rica hat sich in den letzten Jahren rund um den Fußball viel getan. Die Generation der WM-Teilnehmer von 1990 und 2002 besetzen inzwischen die entscheidenden Manager- und Trainerposten und haben moderne Aufbaumethoden und Spielsysteme eingeführt. Vereine wie der Hauptstadtclub Deportivo Sarprissa unterhalten Jugendakademien, in denen junge Talente systematisch gefördert werden.
Der Erfolg überrascht trotzdem. Die Infrastruktur rund um den Fußball ist prekär, Fußball- und Bolzplätze sind in der Trockenzeit von Dezember bis April ausgedörrte, staubige Fleckchen Erde, die erst in den Abendstunden aufgesucht werden. Und die Stadien der ersten Liga sind allenfalls drittklassig und fassen kaum mehr als zehn- bis fünfzehntausend Zuschauer. Nur das neue Nationalstadion, das von China erbaut und 2011 dem costa-ricanischen Volk „geschenkt“ wurde – mit der stillschweigenden Auflage, die diplomatischen Beziehungen zu Taiwan abzubrechen –, kann europäischen Standards standhalten.
Die großen Clubs des mittelamerikanischen Landes sind in den Händen von Industrieunternehmen oder Mäzenen – aber sie zahlen nicht gut. Die Folge: Spitzenfußballer sehen zu, dass sie ins Ausland kommen, und sei es nur zu zweitklassigen Vereinen.
Und so stehen zurzeit vierzehn WM-Teilnehmer bei europäischen oder nordamerikanischen Clubs unter Vertrag. Nach den bisherigen überzeugenden Vorstellungen träumen nun viele Spieler von einem Karrieresprung zu einem europäischen Spitzenclub. Dann würden neben Ananas, Bananen und Kaffee auch die costa-ricanischen Kicker zu Exportschlagern.
Das Team, das derzeit in Brasilien auf dem Rasen steht, scheint allerdings ungewöhnlich: „Von diesen Jungs sind viele Hochschulabsolventen, 95 Prozent studieren“, sagte der ehemalige Nationalspieler und jetzige Torwarttrainer Luis Gabelo Conejo. Wenn das stimmt, dann lässt das Rückschlüsse auf deren soziale Herkunft zu: Nur vier Universitäten im Land sind staatlich, alle anderen sind private Hochschulen, die nur mit erheblichen Studiengebühren zu absolvieren sind. Der Straßenfußballer aus armen Verhältnissen geht nicht an die Uni.
In Costa Rica ist es schon jetzt zur festen Formulierung geworden, diese Mannschaft sei die beste Generation von Spielern, die Costa Rica je hervorgebracht hat. Voller Stolz trägt man das Trikot der Selección oder hat ein Fähnchen der Nationalflagge bei sich, sei es auf der Straße, im Supermarkt oder im Dienst. Zusätzlich wurde die Begeisterung für das nationale Fußballteam noch von höchster Stelle befohlen. Der neu gewählte Präsident Luis Guillermo Solís sandte allen Ministerien und öffentlichen Einrichtungen im Land einen „Erlass“, wonach Beamte und Angestellte für die Zeit der TV-Übertragung ihre Arbeit einzustellen und den nationalen WM-Helden vor dem Bildschirm beizustehen hätten.
„Wir leben einen Traum, und jetzt haben wir vor niemandem mehr Angst.“ So drückt Mittelfeldspieler Christian Bolaños die Stimmung im Team der Ticos aus. Costa Ricas WM-Wunder geht weiter, am Samstag gegen die Niederlande.