: „Diese Kampagne macht mich sehr wütend!“
GEDENKJAHR Im litauischen Gedenkjahr droht der Holocaust in Vergessenheit zu geraten, während überlebende jüdische Partisanen seit Jahren Gegenstand einer Kampagne sind. Gespräch mit Simon Alperavitchius, Präsident der Jüdischen Gemeinde Litauens
■ ist der Präsident der 5.000 Mitglieder zählenden Jüdischen Gemeinde Litauens.
INTERVIEW FRANK BRENDLE
taz: Herr Alperavitchius, in Litauen jähren sich dieses Jahr 70 Jahre Einmarsch der Nazis und 20 Jahre Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Was wird dabei im Vordergrund stehen?
Simon Alperavitchius: Das Parlament hat in zwei getrennten Resolutionen angekündigt, das Jahr 2011 werde sowohl den Opfern des Holocaust gewidmet und ebenso den sogenannten „Großen Verlusten des Freiheitskampfes“.
Diese „Großen Verluste“ beziehen sich nur auf jene Litauer, die nach 1944 im Kampf gegen die Sowjetherrschaft starben?
Ja, wir haben kein Verständnis dafür, dass in dieser zweiten Resolution kein Wort über die Juden steht. Das Problem ist, dass viele Litauer, die gegen die Sowjets und für die Unabhängigkeit Litauens gekämpft haben, zugleich an den Mordaktionen gegen Juden teilgenommen haben. Sie haben für Litauen gekämpft, aber sie haben auch Juden ermordet. Zugleich standen Juden im Kampf gegen die Nazis, also für die Freiheit Litauens. Und die Auslöschung der jüdischen Zivilisation ist zweifellos ein großer Verlust für Litauen, an den erinnert werden sollte.
Aus offizieller Sicht gibt es eine Kontinuität des „litauischen Freiheitskampfes“ von 1941 bis 1991. Inwiefern wird die Kollaboration mit den Nazis thematisiert?
Die Politik kümmert sich nicht sehr intensiv um dieses Thema. In Israel sind viele Namen von Kollaborateuren und Mördern bekannt, aber hier in Litauen werden sie als Partisanen und Helden betrachtet.
Leitlinie der litauischen Geschichtspolitik ist die Gleichsetzung von Nazi- und sowjetischen Verbrechen. Was halten Sie davon?
Wir haben nichts dagegen, Verbrechen zu vergleichen. Beide Regime waren diktatorisch, beide gingen die eigene Bevölkerung vor. Aber man sollte nicht sagen, es sei alles das Gleiche. Deswegen haben wir auch dagegen protestiert, dass der Präsident eine Internationale Kommission zur Untersuchung der Verbrechen beider Regime eingesetzt hat. Wir wollten nicht, dass ein und dieselbe Kommission sowohl die Nazi- als auch die sowjetischen Verbrechen behandelt, weil das unangemessen gegenüber den Opfern beider Regime wäre. Das waren unterschiedliche Verbrechen, die getrennt untersucht werden müssen. Nicht nach unterschiedlichen Kriterien, aber jedes für sich.
Im staatlichen „Museum der Opfer des Genozids“ mitten in der Hauptstadt Vilnius wird der Holocaust überhaupt nicht behandelt.
Wir halten es für einen Fehler, dass das Genozid-Museum nicht die ganze Wahrheit sagt. Vor einigen Jahren haben uns ausländische Besucher mehrfach berichtet, sie hätten im Museum nach dem Schicksal der Juden gefragt, und die Museumsführer hätten ihnen bloß mitgeteilt, die Juden hätten mit dem sowjetischen Regime kollaboriert. Inzwischen mag das Personal ausgetauscht worden sein, aber generell wird in Litauen die kommunistische Herrschaft oft mit Juden gleichgesetzt. Dabei hat die Forschung gezeigt, dass der Anteil der Juden an den Kommunisten dem Durchschnitt entsprochen hat. Und viele Leute verstehen den historischen Zusammenhang nicht: Natürlich hatte der Kampf jüdischer Partisanen etwas Gemeinsames mit dem sowjetischen Regime. Aus einem einfachen Grund: Sie hatten den gleichen Feind, und sie hatten überhaupt keine andere Wahl, wenn sie nicht von den Nazis ermordet werden wollten.
Überlebende jüdische Partisanen sind seit Jahren Gegenstand einer Kampagne. Rechte Medien werfen ihnen vor, Litauer umgebracht zu haben, und die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Diese Kampagne macht mich sehr wütend. Die Untersuchung gegen die Hauptperson, Yitzhak Arad, der viele Jahre Direktor von Jad Vaschem gewesen ist, wurde zwar inzwischen eingestellt, wegen „fehlenden Tatverdachtes“. Das ist völlig unbefriedigend. Die Wahrheit ist doch, dass jede Nation das Recht hat, für ihre Existenz zu kämpfen. Die Partisanen in Frankreich werden zum Beispiel als Helden betrachtet. Hier in Litauen aber nicht, obwohl sie das Gleiche getan haben. Gerade die jüdischen Partisanen mussten in den Wäldern ihr nacktes Leben verteidigen.
Bekommen Sie wenigstens Unterstützung aus der Zivilgesellschaft?
Fast nicht. In den ersten Jahren der litauischen Unabhängigkeit gab es noch viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Litauern. Und es wurde eine Menge für die Juden getan, damit sie ihre Rechte zurückerhalten. Aber seit ungefähr fünf Jahren gibt es Medienkampagnen gegen Juden, der Antisemitismus nimmt zu. Viele Intellektuelle und Journalisten haben ganz offensichtlich beschlossen, es sei besser für sie, ruhiger aufzutreten. Auch vonseiten der Politiker ist kein Protest gegen diese Entwicklung wahrzunehmen.