: Das Geheimnis unangetastet lassen
Alles, bloß kein Biopic: Gus Van Sants „Last Days“ ist ein wunderbar minimalistischer Film über die letzten Tage eines Rockstars. Ähnlichkeiten zu Kurt Cobain sind beabsichtigt, aber nie penetrant
von ANDREAS BUSCHE
„What else should I be? / All apologies / (…) What else should I write? / I don’t have the right“ (Nirvana, „All Apologies“)
Das Schlimme an Künstler-Biopics ist, dass sie ständig vorgeben, Antworten zu liefern, während sie doch nur alte Gewissheiten perpetuieren. Biografien werden runtergebrochen auf eine Abfolge von Schlaglichtern und Schlüsselmomenten: der erste Kuss, der Tod des Vaters/der Mutter/der Schwester, der erste Fix, der letzte Fix, der große Hit, das geflügelte Wort, das seinen Platz in den Geschichtsbüchern beziehungsweise Pop-Annalen gefunden hat. Im Biopic kommen alle schlechten Eigenarten des Kinos zusammen, die es letztlich wieder nur auf traditionelle Kunstformen zurückwerfen. Starre Begriffe wie Werktreue, Subjektbildung und Figurenpsychologie degradieren das Kino zu einer Bildermaschine zweiter Ordnung, bis die Kinobilder nichts mehr darstellen als sich selbst. Die Frakturlinien einer Biografie werden überblendet, ihre Widersprüche notdürftig psychologisiert, mehrere Jahrzehnte auf zwei Stunden zusammengeschoben – das Resultat erinnert in den meisten Fällen an lieblos zusammengestellte Best-Of-CDs: Bekanntes wird weiter kanonisiert und das Künstlerschaffen konsensfähig gemacht.
Man kann Gus Van Sant darum gar nicht hoch genug anrechnen, dass er mit „Last Days“, einer Meditation über die letzten Tage, womöglich die letzten Stunden (genau lässt sich das nicht sagen, weil Van Sant wie schon in „Elephant“ seine Geschichte elliptisch angelegt hat) im Leben des ehemaligen Nirvana-Sängers Kurt Cobain, die Konventionen des Biopic nun rigoros unterläuft. „Last Days“ stellt nicht einmal den Anspruch, biografisch zu sein. Seinen Film hat er Cobain zwar gewidmet, im Abspann stellt Van Sant aber auch klar, dass er lediglich von dessen Leben inspiriert ist. Blake (Michael Pitt), ein abgehalfterter Rockstar, der in seinem Landhaus im Drogenstupor vor sich hin dämmert, trägt unverkennbar die Züge Cobains; sein Äußeres erinnert an die von Cobain kultivierte Grungekluft: der ikonische Ringelpullover, die Kindersonnenbrille, die Strickjacke und die ungepflegten Haare, die wie ein Vorhang über Pitts Gesicht fallen.
Viel entscheidender aber als das, was van Sant zeigt, ist, was in „Last Days“ ausgelassen wird. Diese Auslassungen verdichten sich zu einer schmerzhaften Leere, die sich durch den ganzen Film zieht: in der Verlorenheit Blakes, der Beharrlichkeit, mit der er sich der Kamera immer wieder entzieht, seinen verirrten Märschen durch den Wald, bis hin zu einfachen Dingen wie der Zubereitung eines Fertiggerichts. Alle Kommunikationswege sind gekappt, der Blick bohrt sich immer wieder stumpfsinnig ins Nichts. Blakes wahnhaftes Gebrabbel bildet den permanenten Hintergrundsound seines unaufhaltsamen Abstiegs. Van Sants Cobain-Figur wird, so viel ist sicher, nicht im selbstzerstörerischen Feuer eines Künstlers auf dem Zenit seines Schaffens aus dem Leben scheiden, wie Cobain es in seinem Abschiedsbrief schrieb, sondern dahinschwinden wie eine Flamme, die ihre letzten Sauerstoffreserven aufzehrt.
„Light my candles in a daze / Cause I’ve found God / hey, hey, hey“ (Nirvana, „Lithium“)
Jenseits dieses Dämmerzustands liegt die eigentliche Geschichte Cobains, die „Last Days“ aufzuspüren versucht. Die Rockbiografie bleibt ein weißes Blatt Papier. Nach „Elephant“, einem Film über ein Massaker an einer High School, beschäftigt sich Gus Van Sant mit einem weiteren Krisenmoment der Neunzigerjahre-Jugendkultur, erneut ausgelöst durch einen sinnlosen Gewaltakt. In seinem viel publizierten Abschiedsbrief schrieb Cobain damals, dass der Erfolg mit Nirvana und seine Rolle als „Stimme seiner Generation“, für ihn, den depressiven Grungepoeten, der der Generation X verzweifelt-wütende Sprüche in ihre Poesiealben schrieb, eine Bürde gewesen sei, an der er sich zu Tode gelitten habe. Im Popdiskurs des 94er Jahrgangs nannte man Cobain auch das erste MTV-Opfer: der letzte wahre Rock-’n’-Roll-Rebell, der in eine Sache hineinschlitterte, der er einfach nicht gewachsen war.
Dass Cobains Selbstmord mit jenem bedeutenden Augenblick zusammenfiel, an dem sich die Differenz von Subkultur und Mainstream, nicht zuletzt durch den Erfolg Nirvanas, endgültig aufzulösen begann, und welche tragische Rolle Cobain in diesem kultur(industri)ellen Prozess spielte, verdeutlicht vielleicht die traumatische Qualität der Ereignisse im Frühjahr 1994. Cobain, das Wrack, beim ständigen Pendeln zwischen Konzerttourneen, Reha-Klinik, Fotoshootings und Kleinfamilie. Spätestens mit seinem Tod war das emphatische Label Alternative Rock, das Nirvana maßgeblich mitgeprägt hatten, zu einer zynischen Floskel verkommen – und ganz bestimmt kein Selbstverwirklichungsmodell. Eine Alternative, wozu noch gleich?
Genau an diesem toten Punkt klinkt sich Van Sant in die Passionsgeschichte von Blake/Kurt ein. Wir sehen Blake in seinem Gartenhaus sitzen und Notizen auf einen Zettel kritzeln, möglicherweise seine letzten Worte. Alles, was man seinem Gemurmel entnehmen kann, ist der Satz. „I lost something on the way to wherever I am today.“ Es ist einer von Blakes wenigen luziden Momenten. Die nüchterne Erkenntnis, um etwas Essenzielles beraubt an einem unbekannten Ort angekommen zu sein, wirkt wie ein kurzer, heftiger Stich. Ein anderer, ebenso klarer, schmerzvoller Moment kommt gegen Ende, wenn Pitt fast fünf Minuten lang Akustikballaden spielt und am Ende frustriert die Saiten seiner Gitarre zerreißt. Van Sant gibt nur wenige Details über Blakes Vorgeschichte preis, aber biografische Hinweise auf Cobain klingen ständig mit. Einmal spricht Blake mit einem seiner Bandkollegen, der ihn zur nächsten Tournee überreden will, am Telefon. Das Gespräch verläuft wie so vieles in „Last Days“ im Nichts. Irgendwann legt Blake den Hörer beiseite und lässt seinen Kumpel ins Leere reden, bis die Szene abbricht.
„It is now my duty to completely drain you/ A travel through a tube / And end up in your infection.“ (Nirvana, „Drain you“)
Man darf Van Sants Weigerung, ein psychologisches Profil von Blake/Kurt zu liefern, bloß nicht mit einer Verweigerungshaltung verwechseln; dafür sind seine formalen Mittel zu schlüssig, ist der Rhythmus von Harris Savides’ Bildern zu organisch-fließend. Die Offenheit von „Last Days“ lenkt den Blick vielmehr auf Details, für die sich keine Künstlerbiografie die Zeit nehmen würde. Van Sant geht es nicht um Mythenbildung; ihm ist der „Mythos Cobain“ oder jeder andere Rock-’n’-Roll-Mythos sogar ziemlich schnuppe. „Hast du mit deiner Tochter gesprochen?“, wird Blake einmal von seiner Managerin (Sonic-Youth-Sängerin Kim Gordon) gefragt. „Hast du dich dafür entschuldigt, dass du ein wandelndes Rock-’n’-Roll-Klischee bist?“ Van Sant bringt die Tragik Cobains auf den Punkt: Je verzweifelter er um eine eigene Identität rang, desto mehr wurde er zu dem Klischee, das er immer verabscheut hatte. Es wäre vermessen von Van Sant, etwas zu versuchen, was Cobain selbst nie gelang. Stattdessen sucht er in den Scherben des Mythos nach menschlichen Überresten.
Wo Van Sant aber durch seine nichtlineare Erzählweise die Konkretion isolierter Eindrücke beschwört, oft ohne Sinnzusammenhang, gelingt es Savides mit seinen minimalistischen Bildkompositionen, eine innere Geschlossenheit herzustellen. Im Grunde besteht „Last Days“ aus einer Ansammlung von konzentrierten Tableaus, die Savides mit einer Engelsgeduld durchmisst. So ist Van Sants Film immer dann am besten, wenn er sich den Zwängen des Erzählens völlig entzieht. Die Szene, in der Blake sein Notizheft vollschreibt, gehört zu den eindringlichsten des Films, sie ist ein Meisterstück visueller Komposition. In einer langen, gleichmäßigen 360-Grad-Bewegung umkreist die Kamera Pitt, erfasst zunächst seinen Rücken, registriert seine fahrigen Handbewegungen und die angespannte Konzentration in seinem Gesicht, bevor sie nach einigen Minuten wieder in der Ausgangsposition zur Ruhe kommt. In der Zwischenzeit hat sich im Bildhintergrund jedoch etwas getan: Durch das Fenster oberhalb seiner rechten Schulter sieht man Blakes Hausgäste, die ihm immer wieder Anlass zur Flucht geben, lärmend aus der Stadt zurückkehren.
Eine andere grandiose Einstellung, eine Hommage an Michael Snows „Wavelength“, zeigt Blake aus der Distanz in seinem Proberaum. Während sich die Kamera fast unmerklich zurückbewegt und Stück für Stück den Blick auf das Landhaus freigibt, sehen wir Blake durch das Fenster im Raum herumlaufen und die Instrumente bedienen. Die Gitarrenakkorde schwellen zu einem mächtigen Drone-Sound an, und mit jedem Instrument, das Blake spielt, nimmt die Intensität des Stücks zu, während sich die Kamera langsam vom Haus entfernt. Der strukturalistische Minimalismus Snows ist „Last Days“ durchaus zu Eigen (genauso wie Van Sants „Gerry“ stark von James Bennings Landschaftsfilmen inspiriert war), aber wieder verfremdet Van Sant das Zitat graduell, um zu einer anderen Deutung zu gelangen. Wo Snow durch die kontinuierliche Zoombewegung in das Bild hinein der Einstellung ein Rätsel zu entlocken versuchte, zieht Van Sant sich im Wissen zurück, dass auch die Filmkamera nicht hinter Cobains Geschichte kommen wird – und manche Geheimnisse sowieso besser unangetastet bleiben.
„I am my own parasite / I don’t need a host to live / We feed off of each other“ (Nirvana, „Milk It“)
Konsequenterweise vermeidet Van Sant jeden direkten Hinweis auf Blakes Drogenkonsum; hin und wieder gibt es versteckte Anspielungen. Die beste kommt aus den zerkratzten Rillen einer Schallplatte: Daraus tönen die heroingeschwängerten Drones von Velvet Undergrounds „Venus in Furs“; Lou Reeds bedröhntes Mantra „I am tired, I am weary, I could sleep for a thousand years“ besingt dieselbe Taubheit, die auch Blakes Körper befallen hat. Die Assoziation Plattennadel-Heroinnadel ist ein geschmackvoller Kalauer, wenn auch etwas offensichtlich. Mitunter ist Van Sant gar nicht mal unkomisch in seiner Annäherung an kaputte Rock-’n’-Roll-Klischees. Dem Anzeigenverkäufer der Gelben Seiten, der ihn offensichtlich mit einem anderen Klienten verwechselt, empfängt Blake in einem schwarzen Nachthemdchen und Springerstiefeln. Ungerührt spult der Mann sein Verkaufsgespräch runter; auf die Frage nach seinem beruflichen Erfolg brabbelt Blake ein kaum verständliches „Erfolg ist subjektiv“.
Die Auszeit am Ende hat Blake/Kurt sich redlich verdient. Van Sant lässt ihn seinen Körper verlassen, die „Stairway to Heaven“ hinauf, buchstäblich. Es ist ein kurzer Moment unnötigen Pathos in einem ansonsten bewundernswert nüchternen Film. (Welcher richtige Rock-’n’-Roller wird nach seinem Tod schon in den Himmel kommen, außer Bono Vox vielleicht?) Als Zuschauer ist man erleichtert, dass das Elend, diese morbide Schönheit endlich ein Ende finden. Sie haben von seinen Erfolgen gezehrt und sich eine goldene Nase verdient. Sie haben ihn ausgelaugt und seine menschliche Hülle zurückgelassen. Die Einsamkeit ist sein letzter Trost.
„Last Days“, Regie: Gus Van Sant. Mit Michael Pitt, Kim Gordon u. a., USA 2005, 97 Min.