: „Der Sport ist gemein“
Der Berliner Philosoph Gunter Gebauer appelliert an den mündigen Leistungssportler, den Verlockungen des Dopings zu widerstehen, und fordert zugleich den verdächtigen Radprofi Jan Ullrich auf, endlich Klartext zu reden
INTERVIEW JUTTA HEESS
taz: Herr Gebauer, kürzlich rang sich das Pharma-Unternehmen Jenapharm zu Entschädigungszahlungen an Dopingopfer aus der DDR durch. Seinerzeit handelte es sich um staatlich gelenkten Betrug. Wie sieht das Dopingsystem heute aus?
Gunter Gebauer: Das DDR-Sportsystem war anders – und es war erfolgreicher. Es war anders, weil ein Staat gedopt hat, größtenteils ohne das Wissen der Athleten. Das bedeutet, dass derjenige, der zum Doping gebracht wurde, keinen Ausweg hatte. Heute haben wir einen anderen Sachverhalt: Wir haben einen Staat, der Doping verbietet und unmissverständlich klarmacht, dass er Doping nicht will. Wobei heute die Möglichkeit besteht, dass der Sportler auf kriminellem Weg dopt. Daher ist die Sache extrem unangenehm, weil Doping eine Angelegenheit von Leuten wird, die Ruhm und Geld wollen. Hinzu kommt die Geldgier von Unternehmen, die als Sportsponsoren auftreten – zum Beispiel ein Unternehmen, das einen Radstall sponsert – und die entsprechende Marketing-Erfolge sehen möchte, die sich aber nur einstellen, wenn eine Mannschaft wirklich erfolgreich ist.
Ist das System, das von Unternehmen gewissermaßen gefördert wird, so verwerflich wie das DDR-Zwangsdoping?
Es ist doppelbödiger und in gewisser Hinsicht genauso gemein. Es ist insofern eine große Gemeinheit, da ein Firmenchef behaupten kann: „Bei uns dopt niemand.“ Der große Chef kann vielleicht reinsten Gewissens sagen: „Wir sind eine saubere Firma“ – genau wie der ehemalige Chef von Siemens sagen kann, er habe selbstverständlich nichts von Schmiergeldzahlungen gewusst. Die Schmutzigkeiten vollziehen sich auf der unteren Ebene. Bei einem Team wie T-Mobile ist es klar, dass der Chef vermutlich gar nichts gewusst hat, aber wenn er eine Mannschaft ausrüstet und finanziert, eine Mannschaft, die er im Radsport – also der dopingverseuchtesten Sportart außer Gewichtheben – antreten lässt, dann bedeutet es, dass diese Firma erwartet, dass ihre Mannschaft vorne mitradelt. Sie kann ja nicht nur aus netten Jungs bestehen, die im Verfolgerfeld landen. Die Mannschaft fährt unter Gesichtspunkten des Marketings. Das heißt, man erwartet, dass eine super Leistung gebracht wird unter extrem schwierigen Bedingungen, von denen jeder weiß, dass die Sache nur mit Doping geht.
Der Chef ganz oben weiß also nicht, was unten geschieht?
Man könnte zwar versuchen, die Indizienkette bis hin zur obersten Spitze zu konstruieren, aber die Kette hat Lücken an den Zwischengliedern. Hier gibt es einen kleinen Chef, der für das Team verantwortlich ist, einen sportlichen Direktor, der aber nicht unmittelbar Dopingbefehle ausgeben kann, und dann geht die Kette weiter bis hin zum obersten Firmenchef, der selbstverständlich auch nicht von seinen Sportlern persönlich verlangt, dass sie dopen. Also die Möglichkeit, sich die Hände reinzuwaschen und mit sauberem Gewissen dazustehen, ist ungleich größer, obwohl man vermuten kann: Er hat es gewusst. Er hätte es wissen können. Er ist indirekt dafür verantwortlich. Es gibt natürlich so etwas wie eine moralische Verantwortung.
Aber auch die Sportorganisationen und Funktionäre üben durch hohe Erwartungen Druck auf den Sportler aus?
Ja. Zum Beispiel haben es diejenigen, die die Tour de France entwerfen, in der Hand, eine solche Streckenführung zu wählen, die es nichtgedopten Sportlern erlaubt, mitzufahren und eine vordere Platzierung zu erreichen. Aber die Tour soll ein spektakuläres Rennen sein. Es wird nicht gefragt, wie man einen Parcours hinbekommt, sodass auf gar keinen Fall gedopte Sportler dabei sind. Ähnlich ist es bei Olympia- oder Weltmeisterschaftsnormen in der Leichtathletik.
Zusätzlich zu Sponsoren und Funktionären lasten noch die Erwartungen des Publikums und der Öffentlichkeit auf dem Sportler. Ist der Dopingsünder von heute nicht auch Opfer eines Dopingsystems?
In gewisser Weise, da er ein ganz schwaches Glied in dieser langen Kette ist und auf ihm ein großer Druck lastet. Aber an einer Stelle würde ich diese Opferrolle nicht akzeptieren: Der Sportler befindet sich in einem System, aus dem er aussteigen kann. Es gibt so etwas wie die Verantwortung des Sportlers, und die würde ich nicht kleinreden, sondern sagen: Wenn der Sportler nicht Nein sagt, sagt kein anderer an seiner Stelle Nein. Wenn der Sportler kein mündiger Sportler ist und nicht in der Lage ist, für sich zu entscheiden, dass er dreckige Sachen nicht mitmachen will, dann trägt er ein gewisses Maß an Schuld. Die Sportler müssten von sich aus sagen: Diese oder jene Norm für Olympische Spiele sind zu hoch, wir machen das nicht mit. Und andere Instanzen haben die Pflicht, diese Sportler zu schützen, auf sie zu hören und zu überlegen, wie man ihnen diese Last nehmen kann, damit sie nicht als arme Opfer im Büßerhemdchen denken, sie konnten nichts anderes tun als Pillen einwerfen.
Wie kann der Sportler geschützt werden?
Verbände und Politiker müssten gemeinsam überlegen, wie es möglich sein kann, sich von der Last des Dopings zu befreien und die Anforderungen runterzuschrauben. Ich finde, sie bieten den Sportlern in dieser Situation keine Hilfe an. Fakt ist, dass Sportler, die nicht gedopt sind, zusehen müssen, wie ihnen andere Sportler, von denen sie genau wissen, dass sie bis zur Halskrause voll sind, weglaufen. Und die sauberen Sportler stehen im Schatten und werden vielleicht noch verspottet.
Nur ganz wenige Sportler reden über dieses Dilemma.
Es sind höchstens erfolglose Sportler, die den Mund aufmachen. Es ist Zeit, dass ein großer Held etwas sagen würde. Zum Beispiel würde ich erwarten, dass Jan Ullrich endlich mal Klartext redet. Und sagt, wie er dahin gekommen ist. Vermutlich könnte man das sogar begreifen. Er könnte uns, dem Publikum, klarmachen, wie ein Athlet den Druck fühlt, aber auch den Sog zu Erfolg und Geld. Er könnte sagen, dass es fast keine Möglichkeit gibt, da rauszukommen. Wenn das einmal ein sehr erfolgreicher Sportler sagen würde, und möglichst auf dem Höhepunkt seiner Karriere, wäre das wirklich ein Durchbruch.
Können Sie erklären, warum kaum ein Sünder Doping zugibt? Auch die meisten Topathleten aus der DDR leugnen beharrlich das Dopingsystem.
Würden erfolgreiche Sportler den Mund aufmachen, hätten sie die Grundlage ihrer eigenen Mythologie verloren. Wenn man einen Fabelweltrekord gelaufen ist, ist dieser Rekord immer noch lebensbestimmend. Wenn man sagt, ich war sicher mal sehr, sehr gut, vielleicht war ich auch Weltspitze, aber die ganz großen Weltrekorde bin ich gelaufen, als ich diese und jene Substanzen eingenommen habe – damit zerstört man Teile seines eigenen Lebens. Dies setzt die Souveränität voraus, unabhängig von seinen sportlichen Erfolgen weiterzuleben. Das ist für einen Sportler, der nichts anderes ist als ein normaler Mensch, einfach viel zu viel verlangt.
Wie schafft es ein Sportsystem, das voller Gemeinheiten steckt, weiter zu existieren?
Der Sport weckt so viele Wünsche. Er ist ein System, das den Eindruck erweckt, dass es mit richtigen Dingen zugeht, dass die Leute sich mögen, dass es faire Verlierer und klare Regeln gibt. Es scheint ein transparentes System zu sein. Das zu glauben, ist ein riesenhafter Wunsch, der die Moderne beseelt, seit der Sport erfunden worden ist. Dass man jedoch mit List und Strategie immer weiter an die Grenzen herangegangen ist und sie überschritten hat, das will niemand wahrhaben.