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Archiv-Artikel

Der endgültige Monolog

Fidel Castro, wie er leibt und lebt: Die denkwürdige Geschichte eines hundertstündigen Interviews, das immer wieder neu und immer wieder anders erschien

VON TONI KEPPELER

Man stelle sich vor, ein renommierter Journalist einer bürgerlich-konservativen Zeitung interviewte viele Stunden lang einen rechten Potentaten. Das Gespräch erschiene dann in einem gut 700 Seiten starken Buch, herausgegeben vom Ministerrat des Landes, in dem ebendieser Potentat seit Jahren herrscht. Und damit nicht genug. Man stelle sich weiter vor, die in kurzer Folge auf den Markt geworfene zweite und dritte Auflage wären in Form und Inhalt verändert, weil der Potentat (und nicht etwa der Journalist) noch das eine oder andere verändert oder ergänzt hat. Sicherlich hätte der Journalist dann sein Renommee verloren. Jedenfalls würde niemand sein Werk kritisch nennen, sondern eher – vorsichtig ausgedrückt – liebedienerisch.

Nun ist genau dies geschehen, nur eben auf der anderen Seite des politischen Spektrums. Der renommierte Journalist ist Ignacio Ramonet, Direktor des kritischen linken Monatsblatts Le Monde diplomatique. Sein Gesprächspartner: Fidel Castro, Staats- und Parteichef des sozialistischen Kuba. Die beiden haben sich in den Jahren 2003 bis 2005 immer wieder unterhalten. Glaubt man dem Titel der kubanischen Ausgabe („Cien Horas con Fidel“), waren es insgesamt hundert Stunden. Das daraus entstandene Buch, herausgegeben vom Büro für Veröffentlichungen des Staatsrats der sozialistischen Republik Kuba, erschien im Mai 2006. Die zweite, von Castro überarbeitete Fassung folgte im September zum Gipfel der blockfreien Staaten in Havanna. Die dritte, noch einmal veränderte Version wurde am 1. Dezember bei den Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag Fidel Castros vorgestellt.

Ob bei dieser Auflage der Comandante noch einmal selbst Hand angelegt hat, ist unklar. Einen Monat vor Erscheinen der zweiten Auflage wurde er zu einer Notoperation ins Krankenhaus eingeliefert und hat es seither nicht mehr verlassen. Doch selbst im Krankenbett, schreibt die Parteizeitung Granma, habe Castro am Interview weitergearbeitet: „Der Führer der kubanischen Revolution hat einen großen Teil seiner Zeit für diese Aufgabe verwendet, sogar mitten in der Rekonvaleszenz.“

Es wird also gar kein Hehl aus der Tatsache gemacht, dass der große Staatsmann mit der zunächst von Ramonet vorgelegten Version nicht ganz einverstanden war und hinterher noch kräftig gehobelt hat. Er habe das Mammutinterview nach seinem Erscheinen für die zweite Auflage „überarbeitet“ und dem ursprünglichen Text „Präzisierungen und neue Details hinzugefügt“, schreibt Granma. Die dritte enthalte noch einmal sechzehn neue Seiten und „unzählige Korrekturen und Präzisierungen“.

In bürgerlichen Demokratien würde man dieses ständige Nachbessern eines schon veröffentlichten Interviews durch den Staatschef in die Nähe von Zensur rücken. In Kuba aber ist alles anders. Selbst kritische Geister wie der argentinische Politologe Atilio Borón halten das Vorgehen für völlig normal. Es beweise nur „zwei Dinge: dass Fidel weiterhin arbeitet, mit der Sorgfalt und Weitschweifigkeit, die ihn sein ganzes Leben ausgezeichnet haben. Und dass seine außergewöhnliche Hellsicht weiterhin intakt ist: Er findet auch dort noch Fehler und Ungenauigkeiten, wo der erfahrene Blick seiner Gesprächspartner einen blütenreinen Text sieht.“ Auch Ramonet gibt sich eher stolz als in seiner Interviewer-Ehre verletzt. „Dieses Buch ist unersetzlich für die kommenden Generationen“, sagte er bei der Präsentation – der dritten Auflage. „Es ist eine Waffe auf dem ideologischen Schlachtfeld und durchbricht den Zaun, den das Imperium um Kuba und um Fidel aufgebaut hat.“

Diese dritte Auflage scheint nun die endgültige zu sein: Sie ist so wasserdicht, dass sie dem kubanischen Volk in großer Auflage vorgelegt werden kann. Die Staatszeitung Juventud Rebelde (Rebellische Jugend) vertreibt sie derzeit in vierfarbig bebildertem Zeitungsdruck Kapitel für Kapitel in einer Auflage von 300.000. Jede Fortsetzung kostet, je nach Seitenzahl, 50 Centavos oder einen Peso. Fleißige Sammler können so das Gesamtwerk für den Preis von umgerechnet weniger als einem Euro erstehen. Für die Paperback-Ausgabe der zweiten und dritten Auflage müssen auf dem Schwarzmarkt je nach Verhandlungsgeschick um die 20 Euro bezahlt werden – mehr als der durchschnittliche Monatslohn eines Kubaners. Die erste Auflage wird nicht einmal mehr unter dem Ladentisch, sondern nur noch in wenigen dunklen Hinterhöfen Havannas gehandelt. Doktoranden der Politikwissenschaft, die die drei Ausgaben einem kritischen Vergleich unterziehen wollen, müssen sich also beeilen, wenn sie noch den vollständigen Satz bekommen wollen.

Das Buch gilt schon heute als das Vermächtnis des Alten: Die Welt und wie sie der Staats- und Parteichef sieht. Castro und Ramonet reden nach einem kurzen historischen Vorspiel zu den Befreiungskriegen Kubas über Fidels Geburt auf Vaters Finca im ostkubanischen Dorf Birán, über die religiösen Internatschulen und die Universität, den Sturm auf die Moncada-Kaserne. Über die Landung mit der Yacht „Granma“, den Guerillakrieg in der Sierra Maestra, den siegreichen Einzug in Havanna. Über die Invasion in der Schweinebucht, die Kubakrise, Castros militärisches Engagement in Afrika … Auch über Dissidenten und die Todesstrafe, über Balseros, die sich auf Flößen ins Meer stürzen. Über Korruption und Mangelwirtschaft und über jede Menge Staatsmänner: John F. Kennedy, Jimmy Carter, Juan Carlos von Spanien … Und natürlich über Ernesto Ché Guevara und die Errungenschaften der kubanischen Revolution. Kurzum: über Leben und Werk des Fidel Alejandro Castro Ruz. Die Ausgabe für den spanischen Markt heißt entsprechend: „Fidel Castro. Biografie in zwei Stimmen“.

Nun erwartet man von so einer erzählten Biografie, auch etwas Persönliches zu erfahren – und wird enttäuscht. Natürlich gibt es die schon oft gelesenen Anekdoten aus der Kindheit und Jugend: wie er im Haus seiner Lehrerin in Santiago Hunger litt. Oder wie er zum ersten Mal gegen einen Priester rebellierte. Doch kaum dass sich Fidel zum Revolutionär gehäutet hat, wird alles Private unterschlagen. Dabei ist es gerade das, was Castro sympathisch macht: dass er eben nicht nur ein manisch arbeitender Politiker ist, sondern auch ganz menschliche Schwächen und Gefühle hat. So hat er sich – nur zum Beispiel – mitten in der Vorbereitung des Guerillakriegs im mexikanischen Exil in eine 18-jährige Kubanerin aus der Oberschicht verknallt und ihr einen Heiratsantrag gemacht. Er wollte, dass sie mit ihm nach Kuba komme, als einzige Frau auf der „Granma“. Er hatte schon bei ihren Eltern vorgesprochen, doch dann wollte das Mädchen nicht mit ins Boot und verließ ihn. In Ramonets Buch steht darüber kein Wort. Alles, was in Mexiko geschah, ist heldenhaft und nur auf ein Ziel gerichtet: den Sturz des Diktators Fulgencio Batista.

Auf den mehr als 700 Seiten findet sich nur ein einziges persönliches Aperçu: warum sich Castro, obwohl längst nicht mehr im Guerillalager, noch immer nicht rasiert. Aber auch diese Erklärung bietet nur realsozialistischen Ökonomismus: Wer sich die 15 Minuten der täglichen Rasur erspart, gewinnt im Jahr volle acht Arbeitstage für Wichtigeres – ganz zu schweigen von den Kosten für heißes Wasser, Rasiermesser, Schaum und Aftershave. Immerhin erfährt man, dass das Gehalt des Staats- und Parteichefs umgerechnet rund 25 Euro im Monat beträgt, dass er davon unter anderem seinen Mitgliedsbeitrag an die Kommunistische Partei abführt und dass er nie eine Gehaltserhöhung bekommen hat.

Wer schon zwei oder drei Bücher über die jüngere Geschichte Kubas gelesen hat, erfährt auch politisch kaum Neues. Nur einmal enthüllt Castro Überraschendes: wie Kuba entscheidend daran beteiligt war, dass Venezuelas Präsident Hugo Chávez im April 2002 nach einem Putsch schon zwei Tage später zurück an der Macht war. Die Koordination des Gegenschlags Chávez-treuer Militärs lief über Castros Telefon. „Ich habe an den beiden Tagen des Staatsstreichs von Caracas so gut wie nicht geschlafen. Aber es hat sich gelohnt zu sehen, wie ein Volk gemeinsam mit patriotischen Militärs den Rechtsstaat verteidigt. Die Tragödie von Chile 1973 hat sich nicht wiederholt.“

Dass das Buch sonst eher langweilig vor sich hin mäandert, ist auch die Schuld des Interviewers. Ramonet stellt kaum eine kritische Frage und bohrt nach ausschweifenden, aber nichts Neues sagenden Antworten nicht nach. Eher bietet er Castro eine Bühne zur Selbstdarstellung. Ein Beispiel. Ramonet: „Es gibt Kritiker, die die kubanische Revolution angreifen und ihr andauernd alles Mögliche unterstellen. Sie sind Anwalt. Welche Argumente zu Gunsten der Revolution würden Sie dagegen ins Feld führen?“ Es folgt eine fast siebenseitige Antwort, in der Castro ungefähr alles lobt, was es an seiner Revolution zu loben gibt. Er schließt: „Ich bremse mich hier, um Sie nicht vollends zuzuschütten. Aber ich könnte weitermachen.“ Und Ramonet: „Diese Bilanz ist beeindruckend.“

Soll man sich das Buch wirklich antun? Eine englische Übersetzung existiert bereits, angekündigt sind Ausgaben in acht weiteren Sprachen. Für die deutsche Ausgabe bleibt die Hoffnung, dass ein Lektor Erbarmen hat und kräftig kürzt. Dann könnte am Ende der Lektüre der Eindruck bleiben, der sich beim langen Kampf durch das kubanische Original fast verliert: dass Castro nicht nur ein Pedant und Kontrollfreak ist, sondern auch mit achtzig noch immer ein unverbesserlicher Optimist, der an das Gute im Menschen glaubt.

TONI KEPPELER, 50, langjähriger Südamerika-Korrespondent der taz, ist Mitglied der Agentur Zeitenspiegel und im Grunde Castro-Fan