Singen, brüllen, raufen

SATTEL-SURVIVAL Radfahrer sind Underdogs – und zugleich ritterliche Helden des Straßenverkehrs: Sie duellieren sich tapfer mit bösartigen SUVs, verteidigen die verwitwete StVO gegen Taxi-Drachen – und helfen sich jederzeit selbst über die Straße. Wer möchte da kein Kampfradler sein?

VON HENNING BLEYL

Aggression ist ein Urtrieb des Menschen – und wo ließe er sich besser ausleben als auf dem Fahrrad? Schließlich ist der Sattel auch der Ort, an dem es sich am unbefangensten singen lässt, freier noch als selbst unter der Dusche. Zwar nicht schmeichlerisch verstärkt durch Kacheln und Kabinenwände, doch mit dem entscheidenden Vorteil eines vorbeirauschenden, höchst temporären Publikums. Beim Duschen gilt: Der Nachbar hört potentiell mit, sitzt womöglich beckmesserisch im Nebenzimmer. Der singend Radelnde hingegen weiß sich frei von aller Kunst- und Schmähkritik.

Umso besser kann er selbst schmähen. Kann schreien, schimpfen, fluchen. Und das Leben im Sattel gibt dazu nicht nur die notwendige Freiheit und Hemmungslosigkeit, sondern auch steten Anlass.

Hier kommen die Autofahrer und Autofahrerinnen ins Spiel. Manchmal auch die VerkehrsplanerInnen – aber die sind ja leider nur selten als Anschreipartner präsent. Doch der selbstgerechte Autofahrer, der uns in der Einbahnstraße entgegenbrettert, ohne seinen SUV auch nur ansatzweise zu verlangsamen (seitliches Ausweichen wäre ihm schon rein physisch nicht möglich, erst recht nicht mental), auf diesen SUV-Fahrer also können sich alle vokalen Kräfte fokussieren. Am liebsten dann, wenn er noch Einschusslochfolien an den Scheiben kleben hat, die ihn zum Paris-Dakar-Veteran stilisieren.

Zwar lässt sich dies in der Dramatik des High-Noon-artigen Aufeinanderzupreschens in der engen Seitenstraße kaum rechtzeitig wahrnehmen, aber energetisch ist diese Situation auch so kaum steigerbar. Denn wenn sich beide mit einer Absolutheit, die nach Blut schreit, im Recht fühlen, und sozusagen mit eingelegter Lanze aufeinander zujagen – dann müssten eigentlich die Straßenlaternen von allein zu glimmen beginnen. Schon wegen der elektrostatischen Aufladung.

Zwei entscheidende Unterschiede bestehen zwischen den Duellanten: Der im Auto kämpft risikolos – und der Radler hat Recht. Denn der SUV-ling übersieht mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit, wenn die Einbahnstraße für Radler in beide Richtungen geöffnet ist.

Wenn man so denkt, schreibt, den Alltag erlebt und durchkämpft: Ist man dann Kampfradler? Man wäre es – wenn nicht Peter Ramsauer den Begriff prominent geprägt und damit versaut hätte. Wer will sich schon von einem CSU-Verkehrsminister etikettieren lassen?

Faktisch bleibt der Radler trotzdem ein Kämpfer. Manchmal jedoch ist er ein Ritter von trauriger Gestalt. Sein Kampf gegen plötzlich sich öffnende Fahrertüren gleicht dem Don Quijotes gegen die Mühlenflügel. Und wie fühlt es sich an, aus der relativen Geborgenheit des Radwegteilstücks unvermittelt in die tödlichen Strudel des fließenden Verkehr geschleudert zu werden? Wie reagiert das vegetative Nervensystem, wenn wieder ein Taxi auf einen zurast, das sich in Bezug auf die StVO als exterritorial begreift?

All dem zum Trotz sind RadlerInnen dennoch nicht die besseren Menschen. Obwohl sie so aussehen, sich so verhalten und es folglich verdient hätten, so genannt zu werden. Wurde ihretwegen jemals ein mittelalterliches Stadttor als vermeintliches Verkehrshindernis entsorgt? Erkrankte ein Kind durch den Brems- und Reifenabrieb von Fahrrädern? Brauchen Räder toxische Antigefriermittel für die Scheibenreinigung?

Drei Mal nein. Und dennoch können Radler nicht per se als entwickelter als der Homo suviens gelten. Denn ihre stete Rücksicht auf diesen beruht allein darauf, dass sie regelmäßig ihre Knautschzonen zu Hause vergessen. Und sie bestehen nur deswegen nicht auf ihren Vorfahrtsrechten, weil sie die Knie zur Fortbewegung brauchen.

Aber: Sie singen besser als Autofahrer. Das muss so sein – sonst würden die ja ihre Rollkäfige verlassen und sich auf die Bühne der Straße trauen. Vokale Selbstbehauptung ist der erste Schritt zu einem gerechteren Verkehrssystem.