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Archiv-Artikel

Szenen einer wilden Ehe

KREUZBERGER WELTPOLITIK Die Flüchtlinge und Kreuzberg – das sah nach einem Traumpaar aus. Doch eineinhalb Jahre nach dem ersten Date wird offensichtlich: Die Beziehung ist zum Scheitern verurteilt. Das gilt nicht erst seit den dramatischen letzten Tagen

VON SUSANNE MEMARNIA UND BERT SCHULZ

Am Ende macht die Polizei sogar den Trauzeugen. Um 21.48 Uhr am Mittwochabend verkündet sie via Twitter, dass das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg „sein Räumungsersuchen zur GHS zurückgezogen“ hat. Damit bestätigt sie indirekt auch, dass alle in der Gerhart-Hauptmann-Schule (GHS) verbliebenen Flüchtlinge dem mit dem Bezirk ausgehandelten Kompromiss zugestimmt haben. Es ist eine Art Ehevertrag. Man kann davon ausgehen, dass er in Zukunft des Öfteren gezückt werden wird. Denn die Beziehung zwischen Kreuzberg und den Flüchtlingen ist turbulent, bisweilen knirscht es gewaltig. Zuletzt war sogar eine Trennung wahrscheinlich geworden.

Dass zwischen den beiden etwas furchtbar schief läuft, war jedem klar, der am Freitag vor acht Tagen das Tauziehen zwischen Bezirk und den letzten rund 40 Flüchtlingen in der Schule in der Ohlauer Straße verfolgte: Seit Stunden ringen die darum, mit der Presse reden zu können – und danach wieder zurück zu dürfen, hinter die schützenden Mauern. Schließlich treten drei Menschen aus dem Sudan vor das Tor des Schulgeländes, ihre Asylanträge sind längst abgelehnt. Sie erzählen das nüchtern, und lehnen jeden Kompromiss jenseits eines Bleiberechts ab. Dann schiebt einer nach: „Wenn die Polizei in die Schule kommt, springen wir vom Dach.“ Die Schuld daran würde Hans Panhoff tragen, der grüne Stadtrat für Planen, Bauen und Umwelt.

Panhoff selbst steht wenige Meter entfernt, mit versteinerter Miene. Es gibt keine Kommunikation mehr zwischen den Menschen in der Schule und den Politikern draußen. Fünf Tage später, am Dienstagmittag, bittet der Stadtrat die Polizei, das Gebäude zu räumen. Viele in seiner Partei halten das für Verrat.

Die volle Verantwortung

Doch Panhoff sagt, dass er die volle Verantwortung übernehme, falls in der Folge jemand zu Schaden käme. Sprich: wenn jemand springt. Es geht nicht mehr ums Zusammenleben. Wenn hier ein Flüchtling stirbt, dann enden auch die politischen Karrieren der grünen Bezirkspolitiker. Wie konnte es so weit kommen?

Alles fing richtig harmonisch an: Als der grün regierte Bezirk vor eineinhalb Jahren die Besetzung des Oranienplatzes durch Flüchtlinge klaglos akzeptierte, sah es so aus, als hätten sich da zwei gefunden. Der Bezirk, eine 275.000 Einwohner kleine Kommune, wollte zeigen, dass es möglich ist, sich aus Solidarität und humanistischer Überzeugung für Menschen einzusetzen, die nach Deutschland fliehen müssen, dass sie hier angemessen aufgenommen werden. Das grüne Kreuzberg wollte zeigen, dass eine andere Welt möglich ist. Dass es das gibt, das richtige Leben im falschen. Und die Grünen nicht nur in Berlin konnten sich fortan damit brüsten, dass „ihr“ Bezirk nur drei Kilometer vom Reichstag entfernt Flagge zeigt und Flüchtlingen eine bisher einmalige Chance für ihren Protest gibt.

„Wir unterstützen die politischen Forderungen der Flüchtlinge“, sagte der damalige Bezirksbürgermeister Franz Schulz. „Wir halten sie für richtig.“ Auch die Besetzung der einstigen Gerhart-Hauptmann-Schule kurz darauf akzeptierte er. „Das ist kein Wetter zum Zelten. Wir sind verpflichtet zu helfen.“ Doch Schulz sah die Schule lediglich als „Winterquartier“ für 50 bis 80 Menschen. Als er im Sommer darauf sein Amt wie geplant an Monika Herrmann übergab, lebten in der Schule mehr Menschen denn je. Sie war zu einem Refugium für alle möglichen in Berlin gestrandeten Existenzen geworden: über Italien eingereiste Afrikaner, Roma-Familien aus Südosteuropa, Obdachlose von wer weiß wo.

Die Beziehung zwischen den Flüchtlingen und dem Bezirk war von Anfang an eine, von der beide Partner unterschiedliche Vorstellungen hatten: Es wäre übertrieben, dem Bezirk zu unterstellen, er hätte sich auf wenig mehr als einen One-Night-Stand eingelassen. Aber dauerhaft binden wollte er sich nicht, das ist in der Politik einfach nicht üblich: Man kommt zusammen aus besonderen Umständen, geht in die Details, redet intensiv, streitet sich, findet eine Lösung. Irgendwann ist die Geschichte dann vom Tisch. Und die nächste kommt.

Den Flüchtlingen hingegen ging – und geht – es nicht um etwas Vorübergehendes: Sie wollen eine Zukunft; etwas fürs Leben.

Die linksautonome Szene nahm das Geschenk Schule ebenfalls dankend an. Sie glaubte, aus dem Gelände ein politisches Zentrum machen zu können wie das „New Yorck“ im Bethanien, ebenfalls entstanden aus einer Besetzung. Doch nach wenigen Monaten zog sich eine Gruppe nach der anderen zurück. Politisches Kapital ließ sich aus dem Projekt zu wenig schlagen; in der Schule, nicht gedacht für die dauerhafte Aufnahme so vieler Menschen, häuften sich die Konflikte zwischen den oft traumatisierten Menschen. Immer wieder wurde die Polizei gerufen, von den Schulbewohnern selbst oder von Nachbarn, es gab Auseinandersetzungen, Prügeleien, Messerstechereien. Trauriger Höhepunkt: Ende April 2014 erstach ein Bewohner einen 29-jährigen Marokkaner.

Ein Warnsignal

Dass die Autonomen die Schule einfach aufgaben und die lauthals verkündete Solidarität mit den Refugees an den Nagel hängten, hätte ein Warnsignal sein müssen für den Bezirk. Doch im Bezirksamt ging man weiter von einer vorübergehenden Situation aus: das Gebäude sollte eigentlich zu einem Projektehaus umgebaut werden. Weil man es den zwischenzeitlichen Bewohnern daher nicht zu bequem machen wollte, wurden dringend notwendige Verbesserungen – es gab zum Beispiel nur eine funktionierende Dusche für mehr als 200 Menschen – immer wieder aufgeschoben.

In der Öffentlichkeit geriet die Schule langsam in Vergessenheit. Aus den politischen Forderungen der Flüchtlinge wurde nichts, der Protest verpuffte. Auch hatte der Bezirk ja nicht wirklich etwas zu sagen: weder gegenüber dem CDU-Innensenator, der ein Bleiberecht geben könnte, noch auf Bundes- oder gar EU-Ebene, wo die Asylpolitik verhandelt wird. Weil man die Flüchtlinge aber auch nicht vor die Tür setzen wollte, ließ man sie gewähren. Aus politischer Sympathie und der typischen Kreuzberger Toleranz gegenüber allem Widerständigem wurde ein zunehmend gleichgültiger werdendes Laissez-faire.

Lediglich Stadtrat Panhoff verbrachte Woche für Woche viele Stunden in der Schule, um zu reden – auf Augenhöhe. Die Flüchtlinge galten ja als Besetzer. Mit ihnen glaubten die Grünen umgehen zu können. Viele Parteimitglieder waren selbst einmal welche gewesen. Im Nachhinein muss man fragen, wofür Panhoff so lange verhandelt hat: Hätte er nicht schnell erkennen müssen, dass die Flüchtlinge nicht so bald wieder gehen würden, weil er ihnen im Prinzip nichts anbieten konnte. Dass sie ihre Beziehung eben nicht nur als intensivere Affäre verstehen würden? Und hätte er nicht schon viel früher eine Art Paartherapeuten zu Hilfe holen müssen, statt – ganz zuletzt – die Räumkommandos der Polizei?

Wahrscheinlich hat sich der Bezirk vom räumlichen Erfolg am Oranienplatz blenden lassen. Ende November 2013 kam es zum offenen Kampf mit Senator Henkel um das dortige Camp: Offenbar getrieben von einer fixen Idee stellte Henkel dem Bezirk und den dort lebenden Flüchtlingen ein Ultimatum. Aber dies verpuffte, weil die SPD im Senat sich querstellte. Der Innensenator, der sich als harter Hund präsentieren wollte, war blamiert. Viele Flüchtlinge, der Bezirk und nicht wenige in der SPD feixten in Verbundenheit. Doch diese neue Leidenschaft war nur von kurzer Dauer.

Denn die Zelte sollten verschwinden. Von der wilden Idee, mitten in Kreuzberg den Pfahl im Fleische der deutschen Asylpolitik zu beherbergen, hatte auch der Bezirk inzwischen genug. Viele Anwohner wollten endlich ihren Platz wieder haben, die hygienischen Zustände dort wurden zum Problem. Und der rot-schwarze Senat wollte schon lange den „rechtsfreien“ Schwebezustand beenden. Die Flüchtlinge waren eine Provokation, also eigentlich genau das, was sich die Grünen einst gewünscht hatten: Vor aller Augen brachen die Flüchtlinge das Gesetz in Gestalt der Residenzpflicht – und forderten frech deren Abschaffung, sowie eine grundlegende Revision der restriktiven Asylpolitik. Eine friedliche Lösung schien unmöglich. Die taz schrieb damals: „Die Gemengelage aus Forderungen, Haltungen, Ablehnungen und dem deutschen Asylrecht ist verschlungen wie ein gordischer Knoten.“

Eine umfassende Prüfung

Retten sollte die Situation Dilek Kolat, die SPD-Integrationssenatorin, beauftragt vom Senat. Im Stillen verhandelte sie. Mitte März 2014 verkündete sie, der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, Innensenator Henkel und Bezirksbürgermeisterin Herrmann: Die Flüchtlinge sollten die Zelte abbauen, bis auf ein Informationszelt für den politischen Protest. Dafür sagte ihnen Kolat zu, sich für ihre politischen Ziele einzusetzen – und dass es für alle auf einer Liste genannten Flüchtlinge eine „umfassende Einzelfallprüfung“ geben würde, während der niemand abgeschoben werden solle. Das war zwar wesentlich weniger, als sich die Protestler erhofft hatten, und kaum mehr, als ohnehin jedem Flüchtling per Gesetz zusteht. Dennoch, verkündete Kolat, hätten 80 Prozent der betroffenen Flüchtlinge dem Vorschlag zugestimmt.

Was sich schnell als voreilig erwies. Immer mehr Flüchtlinge meldeten sich, die der Einigung nicht zustimmen wollten. Die Protestbewegung der Flüchtlinge spaltete sich – und so mancher sah darin den eigentlichen Plan des Senats. Vor allem jene, die hoffen konnten, von der Einigung zu profitieren, stimmten ihr zu. Doch ein größerer Teil blieb ablehnend.

Anfang April wurde dann auch ein Haus für die rund 70 auf den Oranienplatz verbliebenen Männer gefunden. Frühmorgens begann der Abbau der Zelte. Allerdings nicht durch die Bewohner, sondern durch jene Flüchtlinge, die der Einigung zugestimmt hatten und ohnehin seit dem Winter in einem Notquartier in Wedding lebten. Unterstützt wurden sie von der Polizei, die Bezirksbürgermeisterin Herrmann zu Hilfe gerufen hatte. Tumultartige Szenen spielten sich ab: Männer verbarrikadierten sich in ihren Hütten und Zelten, andere rückten ihnen mit Brecheisen zu Leibe. „Wir haben die Hütten gebaut, wir reißen sie auch wieder ab“, erklärte der Wortführer der Abzugswilligen, Bashir Zaharia.

Ein paar Tage später ließ der Bezirk Rollrasen auslegen. Die Polizei wacht seitdem darüber, dass der Platz nicht wieder besetzt wird. Nur auf der Nordseite harrt weiterhin ein kleines Grüppchen aus und fordert – in der Mitte ein langer Tisch mit Infomaterial, davor Blumen und Transparente – unverdrossen ein Bleiberecht für alle Oranienplatz-Leute und eine neue Asylpolitik. Dieser stumme Protest macht allen, die es wissen wollen, klar, dass ihr eigentliches Problem – die Existenz, das Überleben in Deutschland – nicht gelöst wird.

Seitdem lebten Bezirk und Flüchtlinge eher nebeneinander her als miteinander. Zumal auch Kolats Erfolg mehr ihr eigener denn einer für die Flüchtlinge war. Nach der Verkündigung der Einigung passierte erst mal lange nichts. Erst nach drei Monaten, Mitte Juni, begann die versprochene Einzelfallprüfung. Bis dahin hatten bereits einige einen Abschiebebescheid aus anderen Bundesländern erhalten, kein einziger Fall war, wie versprochen, nach Berlin transferiert worden. Kurz gesagt: Die Flüchtlinge hatten nicht das Gefühl, den Zusagen des Senats trauen zu können. Ein Gefühl, das bis heute bleibt (siehe Text oben). Von Senatorin Kolat war im Konflikt der vergangenen Tage übrigens nichts zu hören.

Dass der Bezirk als nächstes die Gerhart-Hauptmann-Schule leeren wollte, war absehbar. Als mit Verhandlungen nichts mehr zu erreichen schien, rief man am Dienstag vor zehn Tagen die Polizei zu Hilfe. Die Schule wurde von rund 900 Beamten abgeriegelt. Von einer gewaltsamen Räumung sprach man seitens des Bezirks freilich nicht. Und tatsächlich traf im Fall der Schule die 80-Prozent-Quote zu: Wenige Stunden nachdem die Aktion des Bezirks begonnen hatte, waren knapp über 200 Menschen per Bus nach Spandau und Charlottenburg verfrachtet worden. Der Rest blieb. Und verschanzte sich.

Trotzdem wurde Bezirkssprecher Sascha Langenbach nicht müde zu betonen, dass man keine „Räumung“ im Sinn habe. Stattdessen wolle man „mit Engelszungen“ auf die Menschen in der Schule einreden, auszuziehen. War die Bemühung der himmlischen Wesen ein Akt der Hoffnung, mit dem man an die gute, aber längst vergangene innige Zeit erinnern wollte? Oder eher ein Akt der Verzweiflung?

Keine Engelsgeduld mehr

Die Polizei jedenfalls hatte keine Engelsgeduld. Knapp eine Woche nachdem Hunderte Beamte zum Verdruss nicht nur der direkten Anwohner drei Straßenzüge und fast einen ganzen Wohnblock abgesperrt hatten, drohte Polizeipräsident Klaus Kandt, die Polizisten abzuziehen. Die Folge wäre, so Kandt: Die Schule würde schnell wieder „volllaufen“. Kurz vor Ende des Ultimatums beantragte Hans Panhoff die Räumung.

Klarer kann man einen Trennungswunsch kaum formulieren.

Er stürzte damit nicht nur den Kiez in ein emotionales Chaos: Die Presse fiel über die Grünen her, viele Grüne über Panhoff. Das Bezirksamt, dessen Vertreter von Grünen, Linkspartei und Piraten immer eine Räumung definitiv ausgeschlossen hatten, agierte noch wirrer als vorher, viele Grünenwähler empörten sich über den Polizeieinsatz und das Vorgehen des Bezirksamts. Und die Menschen in der Schule ergriff Panik. Was war geblieben vom anderen Ansatz, vom richtigen Leben im falschen mit Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten und Hilfe brauchen?

Am Ende liegt nun doch ein Papier auf dem Tisch, mit den Unterschriften von 13 Flüchtlingsvertretern sowie von Hans Panhoff und seiner grünen Stadtratskollegin Jana Borkamp. Die Flüchtlinge dürfen in einem Teil der Schule bleiben. Die Räumung wurde abgewendet. Und letztlich waren es die zwei Extrempositionen – Räumungsdrohung versus Suiziddrohung –, die mit zu diesem Kompromiss beigetragen haben.

Aber reicht das als Grundlage für eine Ehe? Selbst wenn sie nur eine Scheinehe ist – die ja, als Mittel zum Zweck, in der Flüchtlingspolitik durchaus ein probates Mittel ist.

Wenige Stunden vor dem Happy End müht sich die grüne Bürgermeisterin Monika Herrmann, die schwierige Situation des Bezirks noch einmal in Worte zu fassen: „Zwar sind die Unterstützungsmöglichkeiten eines Bezirks stark begrenzt“, schreibt sie da. Und fährt fort: „Aber, um es ganz klar zu sagen: Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg kann die völlig falsche Flüchtlingspolitik der EU nicht korrigieren.“ Dann „ersucht“ sie Henkel noch einmal, eine Bleiberechtslösung zu ermöglichen.

Der christdemokratische Innensenator aber verweigert seinen Segen. Und so muss ausgerechnet das grün regierte, so gerne widerspenstige Kreuzberg anerkennen, dass es – zumindest in diesem Fall – eine höhere Macht gibt.