: Wahrheit oder Pflicht
Eigentlich möchten alle Menschen ehrlich sein. Damit jedoch niemand ihre Aufrichtigkeit gegen sie verwendet, engagieren Prominente PR-Berater. Denn im Medienzeitalter ist alles eine Frage des „wordings“, mit dem das Elend der Mittelmäßigkeit überfloskelt wird
VON HEIKE-MELBA FENDEL
Früher sagte man „wie im Märchen“; später galt „wie im Film“, wenn etwas Außergewöhnliches geschah. Heute heißt es: „Das ist bestimmt ein PR-Gag.“ Und wie jeder schlechte Witz wird er möglichst oft weitererzählt. Nicht auf die gelungene Pointe, sondern auf die Verbreitung kommt es an, gemäß dem etwas angestaubten Motto „Hauptsache, man spricht drüber“. Das Hippiehafte dieses Prinzips mündet zwangsläufig in die Tautologie: Alle reden darüber, weil alle darüber schreiben. Und umgekehrt.
Es muss keine große Sache sein, nur der gemeinsame Nenner, auf dem sie zur Meinungsreife verhandelt wird, muss riesig sein. Wer eine Meinung hat, braucht für die Wahrheit nicht zu sorgen – Ups, da ist es, das W-Wort! In der PR-Gesellschaft kommt es nicht vor. Und wenn überhaupt, dann als verzichtbare Größe, verhandel- und verwandelbare Masse oder bloß zu regulierender Schaden.
Menschen möchten eigentlich die Wahrheit sagen. Das liegt in ihrer Natur. Es soll sie bloß keiner gegen sie verwenden, deswegen suchen sie sich PR-Berater. Wie die verwandten, sich ähnlich explosionsartig vermehrenden Berufsstände der Astrologen, Homöopathen und Finanzberater sind sie keine Lügner, sondern nicht schuldfähige Verwalter des Ungefähren. Der Lügner hingegen pflegt eine sehr enge Beziehung zur Wahrheit, weiß er doch auf den Punkt genau, wo er sie versteckt.
Edgar Allan Poe erzählt in seiner Kurzgeschichte „Das verräterische Herz“ von dem Mörder eines alten Mannes, den er tötet, zerstückelt und unter den Dielen seiner Kammer versteckt. Den Polizeibeamten gegenüber erwies er sich als fröhlicher Lügner. Sie halten ihn, der seinen Stuhl auf den Boden gleich über der Leiche postiert hat, für gänzlich unverdächtig. Er selbst jedoch hört ein stetig anschwellendes Pochen, das ihn in den Wahnsinn stürzt. „Reißt die Planken auf!“, schreit er schließlich: „Ich bekenne die Tat! Da, da! Da schlägt sein Herz, das grässliche Herz!“
Man kann nur ahnen, wie oft er aus Menschen wie den Herren Kleinfeld, Hartz , Struve, Diekmann oder den Damen Ferres, Schroth, Simonis, Harms herausbricht, der verzweifelte Ruf „Reißt die Planken auf!“, und wie sie herbeieilen, die Spindoktoren, um sie mit Binsen („Am Ende ist doch alles subjektiv“, „Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern“) von dem Wahn zu erlösen: dem Wahn der sich Bahn brechen wollenden Ehrlichkeit.
Das Klischee ist eine Wahrheit, die meistens stimmt – sich allerdings bis zur Banalität in der Routine erschöpft hat, mit der sie beschworen wird. Ich selbst habe in den Siebzigerjahren eine der ersten Gesamtschulen besucht. In Köln-Chorweiler. Genau: Mit Teeküche, Pädagogischem Zentrum und Duzzwang den fusselbärtigen Lehrern gegenüber und gezielt durch die Schüler ausgenutzten Auswüchsen der Laberkultur. Mit heftiger –wenn auch substanzloser – mündlicher Beteiligung und der gezielt platzierten Vermutung „Dieter, ich spüre, dass du mich ablehnst“ ließ sich die mündliche Note trotz vieler Fehlstunden Richtung „gut“ pushen.
„Dieter“ war in der Mittelstufe unser Deutschlehrer (sein Nachname war Baukloh – ich bin immer noch bei der Wahrheit). Bei ihm hielt ich ein Referat über Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“. Es war toll. Alle waren begeistert. Ich bekam „sehr gut“. Der Haken war nur: Die Novelle hatte ich nie gelesen. An diesem Haken hat sich mein berufliches Schicksal aufgehängt: Keine Ahnung, davon eine Menge und ein paar ungeschützte Behauptungen obendrauf. Der Weg in die PR, hier nahm er seinen Anfang. Das Gegenteil von Wahrheit nämlich ist Ahnungslosigkeit: Die hat wirklich keinen Schimmer.
Manchmal, wenn ich heute mit Klienten beisammen bin, Schauspielern, Regisseuren, Produzenten, und wir uns „Strategien“, „Botschaften“, „Positionierungen“ und „Geschichten“ überlegen, um das Schöne wie das Schrottige mit konstantem Elan PR-relevant aufzuhübschen, wenn wir also zusammensitzen und gute Laune haben, dann spielen wir das Wahrheitsspiel. Darin imitieren wir Interviews und Pressekonferenzen und erzählen im Plauderton die großen und kleinen Peinlichkeiten, Skandale und Unerträglichkeiten und die ehrliche Meinung über Produkte und Autoritäten. Wir schütten uns dabei immer aus vor Lachen: die Wahrheit erzählen – haha! Wir beruhigen uns dann rasch wieder und reden über das „wording“, mit dem das Elend der Mittelmäßigkeit zu überfloskeln ist.
Aber was heißt schon „Elend“ im Reich der Luxusprobleme? Alles eine Frage des „wordings“! Ein Problem wird zur „Situation“, Krisen sind „Zustände“ oder – bei den Onkels – „Herausforderungen“. Und was die Mittelmäßigkeit betrifft: Wenn die Presse es doch gut findet oder ein Teil der Presse oder wenigstens viele gucken oder ein Preis abfällt irgendwo zwischen Emden und Marl, Riga und San Sebastian. Dann hat man es wohl doch zu subjektiv gesehen, sooo schlecht ist es vielleicht doch alles nicht – Menschen, die es zu Berufen in der Darstellungsindustrie zieht, sind per se Wirkungsfetischisten. Rezeption schiebt sich vor Identität. Dieses Modell hat sich inzwischen der Rest der Welt abgeguckt: der Marktwert als merkantilisierte Liebeserklärung, Illusion als Identität. Dies entspringt einer höchspersönlichen Variante der Verhehlung. Selbstbetrug ist die effektivste Form der Haltungsvermeidung. Und ein perfekter Nährboden für die Blüten, die die PR-Gesellschaft treibt.
Die Achtzigerjahre waren ein hart konturiertes, ein männliches Jahrzehnt. Werber waren wichtig. Sie trugen Schwarz, die Wände ihrer Büros waren reinweiß und die Empfangsdamen Models. Sie hatten Produkte zu verkaufen, damit ihre Kunden und sie selbst Geld verdienten. Klare Sache. 20 Jahre später sind PR-Manager, Köche und Yogalehrer wichtiger. Anders als die Werbung zelebriert die PR nicht das Spiel mit der Fiktion, sondern simuliert Substanz und Bedeutung. Esoterik ersetzt Potenz.
PR-Manager teilen sich in zwei Hauptgattungen: Der männliche Prototyp ist der raunende Onkel. Wie ein Dolmetscher bewegt er seine Lippen fortwährend in Ohrläppchenhöhe seines Zahlmeisters und serviert ihm Weisheitshäppchen. Er ist selten groß, immer dynamisch, nie ratlos und nie, aber wirklich niemals gutaussehend. Sein Dreiviertelwissen ist robust, seine Beziehungen zu den Chefredaktionen sind es auch. Meistens hat er den Beruf derer, die er berät, früher selbst ausgeübt und gegen seinen Willen aufgeben müssen, bevor er sich „neuen Herausforderungen“ stellte.
Das weibliche Gegenstück ist die aufgeregte Vertreterin, Typ „Avonberaterin“. Ihre Produktpalette bietet sie – gerne in 20 identischen Anrufen hintereinander – so euphorisch wie prägnant feil: „Ist ’ne ganz Süße“, „Ist ’n ganz Toller“, Detailfragen pariert sie in der Regel mit „Muss ich nachgucken“. Sie selbst ist in der Regel: ’ne ganz Liebe. An sich sind diese Menschen belanglos in ihrer Substanzlosigkeit. Brisanz erlangen sie durch den kollektiven Akt der Übereignung, den – weitaus potentere – Protagonisten unserer Gesellschaft an ihnen und ihrer Substanzlosigkeit vollziehen. Sie optimieren Wirkung, indem sie Vorhandenes deformieren. Damit agieren sie analog zu den Schönheitschirurgen – ebenfalls eine Boombranche, deren Erfolg in Verunsicherung wurzelt. Was den PR-Manager die Wahrheit, ist ihnen die Natur: ein Ausgangspunkt.
Das Meinungsvolk selbst kauft niemandem mehr etwas ab. Es konsumiert und reproduziert die allgegenwärtigen PR-Botschaften in ihrem Alltag gratis als Möglichkeitsmodule. Manche führen ein von der Tautologie verschlucktes Leben zwischen den Zeilen ihrer bevorzugten Lektüre. Andere akzeptieren keine Meinungen wider besseren Lebens, entziehen sich der PR-Mechanik. Ganz selten nur findet sich ein Überläufer aus dem Reich der Jubelperser: Helge Schneider zum Beispiel, wenn er seine wirklich wahre Einschätzung des Films „Mein Führer“ gibt, in dem er die Titelrolle spielt. Welch ein Aufruhr! Welch ein Tabubruch: die Wahrheit erzählen. Ohne haha. Einfach so. Der Filmproduzent beeilt sich, die Ehrlichkeit mit Helges Überarbeitung und als vorläufig zu erklären. Aber dieser hält fest an seiner Sicht. Und gewinnt Respekt.
„Kleider machen Leute“ übrigens erzählt ebenfalls die Geschichte eines Ausstieges aus der Täuschung – ein armer Schneider wird für einen reichen Grafen gehalten –, der sich zum Guten fügt. Nettchen, des Amtsrats Tochter, bleibt dem Geliebten nach seiner Entlarvung trotz des Standesunterschiedes treu. Vielleicht hat Gottfried Keller bereits 1871 geahnt, dass Glück nur jenseits der Rituale der PR-Gesellschaft Bestand hat. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht – denn: Reißt die Planken auf! – ich habe den Text immer noch nicht gelesen.