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Archiv-Artikel

Die Frauenfalle

Emanzipation und die Flucht ins Krankenbett: In der Biografie „Die Tochter“ berichtet Regina Dieterle von den Luxusträumen der Martha Fontane

„Ich halte es für das beneidenswerteste Glück, Papas Frausein zu können“

VON CAROLIN HOLZMEIER

Eine emanzipierte Frau des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So kann man das Leben von Martha Fontane auf den ersten Blick durchaus lesen. Sie philosophierte oft mit ihrem Vater Theodor Fontane und seinen Freunden, hörte Reden von Bismarck und Bebel im Reichstag und verdiente eine Zeit lang sogar ihr eigenes Geld. Gleichzeitig quälten sie Magersucht, Angstanfälle, Depressionen, später kam Alkoholabhängigkeit hinzu

Nun liegt die erste Biografie über Martha Fontane (1860–1917), „Die Tochter“, vor, geschrieben von Regina Dieterle, einer Schweizer Germanistin. Dieterle promovierte bereits über die erotisierte Vater-Tochter-Beziehung im Leben und Werk Fontanes. Gestützt auf jahrelange Recherche in Briefen, Nachlässen und Fotos erzählt sie aus dem Leben dieser Frau, die mit wachen Augen die Welt erlebt und doch so viel Angst vor ihr hat.

Martha litt bereits vor mehr als hundert Jahren an einem Konflikt, den heute fast jeder kennt: Auf der einen Seite sehnt sie sich nach Freiheiten, auf der anderen Seite braucht sie eine sichere Existenz und ein von der Gesellschaft anerkanntes Leben. Eine Balance zwischen beiden Polen hat sie lange nicht finden können. Mit 56 Jahren nahm sie sich das Leben.

Schon als Kind genoss sie seltene Freiräume. Zehn Jahre ist sie alt, als sie für ein Jahr zu einer befreundeten Familie nach London geht, um Englisch zu lernen. Dank der Sprachkenntnisse reist die 24-jährige Martha dann mit einer reichen Amerikanerin, Mrs. Dooly, und deren Tochter durch Italien und Südfrankreich. „Mrs. Dooly konnte während ihres Europaaufenthaltes viel Geld ausgeben. Das faszinierte Martha“, schreibt Dieterle. Auf Reisen, wenn sie die Freiheiten und den Luxus hat, scheint sie eine unterhaltsame Gesellschaftsdame zu sein.

Anders sieht es aus, wenn die Umgebung sie einengt. Auch das vermittelt die Biografie mit einer Episode. Martha arbeitet vier Jahre vor der Mittelmeerreise als Lehrerin bei einer Gutshoffamilie, und sie widerspricht dem Hausherrn, ein Affront für die damalige Zeit. Kurze Zeit später wird sie krank. „Ich ertappe mich auf meinem alten Fehler, ein Krankenbett etwas außerordentlich Gemütliches zu finden“, zitiert Dieterle aus einem ihrer Briefe.

Zu dieser Zeit diagnostiziert ein Arzt Hysterie – heute würde man manisch depressiv sagen. Der Vater befreit sie aus der Situation und holt sie vom Gutshof zurück nach Berlin. In den folgenden 20 Jahren ist sie die Frau an seiner Seite. Dieterle beschreibt sie als Theodor Fontanes wichtigste Gesprächspartnerin und Erzählstofflieferantin für seine literarischen Werke. Martha nimmt an seinen Diskussionsrunden teil und sagt in diesen Zirkeln selbstbewusst ihre Meinung.

Der Vater „ist die Hauptperson in ihrem Leben“, so die Biografin. Sie komme nicht aus dem Bann des Vaters heraus, heißt es im Buch. Die Gründe dafür bleiben jedoch leider im Dunkeln. Ein Briefzitat im Buch allerdings ermutigt dann doch zu Spekulationen. „Ich halte es für das schönste und beneidenswerteste Glück, Papas Frau sein zu können“, schreibt Martha 21-jährig an ihre Mutter. Über diese klaren Worte würde sich heute jeder Psychologe freuen. Martha schreibt den Brief, bevor Freud seine Ödipusanalyse veröffentlicht hatte. Womöglich hätte sie danach den tabuisierten Wunsch, die Frau des Vaters zu werden, nicht mehr so unbedarft ausgesprochen.

Die problematische Vater-Tochter-Liebe könnte ein Grund für Marthas innere Zerrissenheit zu sein. Mit psychologischen Erklärungen für dieses Frauenschicksal hält sich die Biografin im Buch aber bedeckt. Eine weitere Rolle, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, könnte die kurze Liebesbeziehung der 31-jährigen Martha mit einer jüngeren Frau gespielt haben. Neun Jahre später, kurz nach dem Tod des Vaters, heiratet sie aber den 60-jährigen väterlichen Freund und gesellschaftlich hoch angesehenen Architekten Karl Emil Otto Fritsch.

Und auch hier Zerrissenheit. Fritsch ermöglicht Martha ein Leben in Reichtum, nach dem sie sich lange gesehnt hat. „Einerseits will sie Unabhängigkeit, Selbständigkeit, die Welt sehen, andererseits hat sie einen stark ausgeprägten Hang zum Luxus“, sagt die Autorin im Gespräch. Genießen kann sie es jedoch nicht. Nach der Heirat verstärken sich ihre depressiven Phasen, sie trinkt immer mehr Alkohol. Dennoch meint die Biografin: „Emanzipation ist bei Martha ein Stichwort. Sie ist ein Glück für die Frauengeschichte.“

Dieterle erwähnt in dem Buch „Die Tochter“ Marthas Krankheitsphasen, den Schmerz jedoch ihrer inneren Zerrissenheit, der uns näher an diese Frau heranführen würde, lässt sie aus. Viele Seiten widmet sie dem historischen und gesellschaftlichen Umfeld Martha Fontanes. Vor unseren Augen entstehen das deutsche Kaiserreich und die Metropole mit heute noch bekannten Straßen und Häusern. Auch stellt es die Familie und deren Freundeskreis vor. Die LeserIn fühlt sich unweigerlich in die Epoche versetzt. So erzählt das Buch lebendig, einem Film gleich, das Leben einer Frau, die mit ihren inneren und äußeren Abhängigkeiten ein Kind ihrer Zeit ist und doch in ihren Ansprüchen ihrer Zeit weit voraus.

Regina Dieterle: „Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane“. Verlag Carl Hanser, München 2006, 432 Seiten, 24,90 €