: Der Kampf wird am Ball geführt
KOLUMBIEN Anders als vor zwanzig Jahren werden die heimgekehrten Spieler jubelnd empfangen. Mehr noch: Der Fußball zeigt das Potenzial, das Land zu einen
VON RALF LEONHARD
Während die Polizei landesweit lediglich 4.300 Schlägereien aufgrund der Viertelfinalniederlage gegen Brasilien meldete und 109 Autofahrer wegen besoffenen Fahrens angezeigt wurden, bereitete die kolumbianische Bevölkerung ihrer Fußballmannschaft am Sonntag einen begeisterten Empfang am Flughafen El Dorado von Bogotá. Kein Team aus dem Andenstaat hat sich je erfolgreicher von einer WM verabschiedet. Und nichts hat das von einem seit 50 Jahren geplagten bewaffneten Konflikt in den vergangenen Wochen mehr beschäftigt als der attraktive Offensivfußball, die mannschaftliche Geschlossenheit und die Freude, mit der sich die Cafeteros in die Herzen zahlloser Fans, aber auch Kommentatoren spielten.
Volkserzieher Fußball
Gleichzeitig war die Fußball-WM für Kolumbien eine große Erziehungsanstalt. In Städten, wo sich Fans während der öffentlichen Match-Übertragungen schlecht benahmen, wurden zur Strafe die Videowände abgebaut. In nur 71 Lokalen ließ man sich beim Übertreten des Alkoholverbots am Samstag erwischen. Rasierschaum und Mehl wurden aus dem öffentlichen Raum verbannt, weil manche Fans im Freudentaumel gern unbeteiligte Passanten einnebeln und besprühen, was manche gewaltsame Reaktion provoziert hatte. In heiklen Bezirken und den Partyzonen rund um das Public Viewing patrouillierte die Armee. Exzesse, wie sie nach dem Auftaktsieg gegen Griechenland vor zwei Wochen neun Todesopfer forderten, konnten durch eine Mischung aus Kontrolle und Appellen an die Vernunft weitgehend eingedämmt werden. Dass Präsident Juan Manuel Santos dem Viertelfinale beiwohnte, gehört schon zur politischen Routine und mag nach der knappen Wiederwahl auch dem Heischen um Popularität geschuldet sein.
Weniger sichtbar auf der VIP-Tribüne waren die von der Fifa eingeladenen Angehörigen des Fußballers Andrés Escobar, dessen Ermordung in Medellín sich vor einer Woche zum zwanzigsten Mal jährte. Sein Eigentor gegen die USA bei der WM 1994 wurde damals für das frühe Ausscheiden Kolumbiens verantwortlich gemacht. Obwohl die Umstände der Gewalttat nicht restlos geklärt sind, deutet vieles darauf hin, dass es ein Racheakt von Drogenbossen war, die viel Geld in den Wettbüros verloren hatten. Damals war auch die vom blonden Wuschelkopf Carlos Valderrama angeführte Elf notorisch von Drogengeldern unterwandert, und Teamchef Maturana wurde mit dem Tode bedroht, sollte er einen bestimmten Spieler einsetzen.
Heute gibt es keine Hinweise, dass das Team um James Rodríguez von Mafiageldern korrumpiert ist. Die Macht der Drogenkartelle ist deutlich geringer als vor 20 Jahren. Und mit den Helden auf dem grünen Rasen identifizieren sich nicht nur Panini-Bildchen sammelnde Teenager. Wie Umfragen in den Geburtskliniken belegen, werden wohl Tausende im Juli 2014 Geborene ihr Leben lang an die Taten des Torjägers James Rodríguez erinnern. Auch die Namen Jackson (nach dem Stürmerstar Jackson Martínez) und selbst José Néstor (nach Teamchef Pekerman) haben in den Taufkapellen Hochkonjunktur.
Dass die Comandantes der Farc-Guerilla, die in Havanna ein Friedensabkommen mit der Regierung verhandeln, sich in den gelb-weißen Team-Dresses ablichten ließen, mag ein Kuriosum sein, das zeigt, wie der Sport auch den tiefsten ideologischen Graben überbrücken kann. Doch während der Weltmeisterschaft ist auch die Zustimmung der Bevölkerung zum Friedensdialog angestiegen, wie die Umfrageinstitute melden.
Versöhnung nach 50 Jahren
Auch die Tatsache, dass die kolumbianische Gesellschaft eine multiethnische ist, wird durch die afrokolumbianischen Kicker sichtbar. Verteidiger Pablo Armero, Ballartist Guillermo Cuadrado und Stürmerstar Jackson Martínez kommen aus dem Pazifikdepartement Chocó, einer der ärmsten und am meisten marginalisierten Gegenden Kolumbiens mit hohen Mordraten durch den bewaffneten Konflikt. Daran erinnern 113 afrokolumbianische und indigene Gemeinden in einem offenen Brief an James Rodríguez. „Sie und Ihre gesamte Mannschaft sind Ausdruck dessen, was wir uns für unser Land wünschen“, heißt es da, „Pluralität im Projekt für eine Nation, ein Land, wo die Unterschiedlichkeit eine Ergänzung ist, eine Demokratie, in der wir alle zählen, selbst wir, die Bauernbevölkerung, so wie sie auch im Team wichtig sind.“ Und sie erinnern ihn, den Sohn eines Profifußballers, der vermutlich von rechten Paramilitärs ermordet wurde, an die grausame Wirklichkeit von Vertreibungen und Massakern, der gerade diese Gruppen ausgesetzt waren und zum Teil noch sind: „Als Sie als Kind dem Ball nachliefen, gab es Leute, die mit den Köpfen unserer Brüder Fußball spielten.“ Diese Exzesse der Paramilitärs, die Zigtausende Bauernfamilien von ihrem Land vertrieben, lasten schwer auf einem Versöhnungsprozess, der noch gar nicht begonnen hat, auch wenn ein erfolgreicher Abschluss der Friedensgespräche von Havanna absehbar ist.
Sportreporter freuen sich über den wiedererwachten Nationalstolz der Bevölkerung, die im Ausland lange Zeit nur mit Drogen und Gewalt identifiziert worden ist. Die Mannschaft, die nicht nur erfrischend locker und weitgehend fair spielte, hat gezeigt, dass es auch ohne Gewalt geht. Das schwere Foul des Camilo Zúñiga, der dem brasilianischen Superstar Neymar mit dem Knie voran in den Rücken sprang und einen Lendenwirbel brach, hat diese Bilanz etwas getrübt, bleibt eine hässliche Ausnahme in einer sonst makellosen Bilanz.
Und vielleicht wird James Rodríguez selbst zu einem Protagonisten einer nationalen Versöhnung, wenn er die Einladung der Afro- und Indigenengruppen zu einem Gespräch annimmt: „Wir wollen kein Geld, sondern Ihre moralische Unterstützung für einen Plan für dieses Land, einen Plan voller Hoffnung.“