: Ein Kaleidoskop aus Mord, Diebstahl und Strafe
AUSSTELLUNG Global, banal, realistisch und schockierend: Zeitgenössische Künstler inszenieren die wichtigsten Episoden aus Buñuels Skandalfilm „L’Âge d’Or“ neu. „Der Stachel des Skorpions“ heißt die Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt
VON ANNABELLE HIRSCH
Als Julien Green am 9. Juli 1930 von einer Privatvorführung des Films „L’Âge d’Or“ heimkehrt, notiert der Schriftsteller in seinem Tagebuch: „Der Film wurde freundlich, aber mit leicht verzogenen Visagen aufgenommen. Francis de Croisset, der ihn schon vor einem Monat gesehen hat, war entsetzt. François Mauriac, dem man das Spektakel in all seinen Details überliefert hatte, zeigte ebenfalls die tugendhafteste Empörung.“
Für die Gastgeber des Abends, das jüdische Mäzenepaar Charles und Marie Laure de Noailles wurde das Werk des Surrealisten Luis Buñuel zum Verhängnis. Ihr Engagement für diese Arbeit führte nicht nur zu einem Bruch mit der mondänen Pariser Gesellschaft, auch die Gruppe der Surrealisten um Anführer André Breton distanzierte sich lautstark von dem Ehepaar.
Was man dem knapp sechzigminütigen Film damals vorwarf, ist aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar: Er sei zu radikal, zu brutal, zu sexuell, einfach zu durchgeknallt und dabei noch nicht einmal so visuell exzentrisch, wie es das ein Jahr zuvor präsentierte Werk „Un chien andalou“, die Co-Produktion mit Salvador Dalí, gewesen war.
Man fand es anmaßend, dass Buñuel seine, wie man fand, „entsetzlichen“ Inhalte in einer mehr oder weniger klassischen, narrativen Erzählform verpackte, statt sich in seinem Terrain des Wirren und Träumerischen zu vergnügen. Am allerschlimmsten aber schien, mit welcher Leidenschaft der Autor gegen die christliche Moral und somit die Säulen der französischen Gesellschaft wetterte: Ein blinder Mann wird auf der Straße zu Fall gebracht, ein Hund überfahren, ein Vater erschießt seinen Sohn mit einer Schrotflinte, nur weil er ihm seinen Tabak klaut, eine alte Dame wird mitten auf einer Party geohrfeigt, ein Priester wird aus dem Fenster geworfen und eine Frau lutscht genüsslich am großen Zeh einer antiken Gartenskulptur.
Charles de Noailles hielt dies alles für „herrliche, exquisite“ Gags, die Pariser Gesellschaft, die Kirche, den Adel aber empörte es dermaßen, dass sich die de Noailles in ihre schöne Villa im südfranzösischen Hyères und Luis Buñuel nach Los Angeles flüchteten. Von dort aus berichtete der Künstler vor allem über den mäßig beeindruckenden Intellekt von Charles Chaplin und das unbeeindruckende Aussehen von Rita Hayworth. Und der Film? Der wurde nach einem gewalttätigen Übergriff nationalistischer Gruppen im Dezember desselben Jahres endgültig aus den Kinosälen verbannt. Erst knapp fünfzig Jahre später wurde er wieder vertrieben.
Nach einer ersten Ausstellung in der Münchner Villa Stuck lässt das Künstlerduo M+M den Skandalfilm jetzt in zeitgenössischer Adaption noch einmal im Pinienhain der Mathildenhöhe in Darmstadt aufleben. Die Idee ist so einfach wie subtil: M+M hat Künstler bzw. Künstlergruppen eingeladen, sich einen der sechs Teile des Klassikers – die Skorpione, die Verbrecherbande in den Bergen, die Trennung der Liebenden, die Erschießung des Jungen, die Abendgesellschaft, die tödlich endende Orgie des Marquis de Sade – auszusuchen und neu zu inszenieren. Die Filme sind parallel und ohne besondere Absprache eigens für das Projekt entstanden.
Am Ende, so haben es die Kuratoren und Künstler Marc Weis und Martin de Mattia vorgesehen, entsteht eine Art filmischer „Cadavre Exquis“, ein aus disparaten Elementen zusammengesetzter Körper, ein heterogenes Ganzes, generiert aus dem Kollektiv. Buñuels pseudodokumentarischem Einstieg zum Skorpion und seiner tödlichen Waffe, dem sechsgliedrigen Schwanz, widmet sich Tobias Zielony. Vier verschleierte Frauen erforschen hier in einem verdunkelten Laborraum einen toten Skorpion mit UV-Licht. Der Berliner Fotograf hat den Film während seines Aufenthalts in Ramallah gedreht und setzt damit gleich einen neuen Fokus: Das „Âge d’Or“, das Goldene Zeitalter von heute, kann nichts weniger als global sein.
Das australisch-deutsche Duo Chicks on Speed, den meisten Besuchern wohl eher als Performerinnen denn Künstlerinnen bekannt, haben den zweiten Teil übernommen, in dem der junge Max Ernst als Chef einer Banditengruppe durch die Berge zieht. Wer den Film kennt, erinnert sich vor allem an Ernsts stechend blaue Augen – faszinierend und beängstigend blickten sie den Zuschauer unerbittlich an. Ganz anders heute: Der Bandenchef wurde durch zwei Chefinnen ersetzt, in goldenen Kostümen verpackt streifen die beiden Frauen singend durch die Wüste auf der Suche nach Gold und Geld und wirken dabei am Ende doch wie in einem, wenn auch teils surrealistischen, so doch ziemlich banalen Musikvideo.
Die Trennung der Liebenden haben M+M selbst übernommen und dafür die großartige Birgit Minichmayr engagiert, was im Grunde schon reicht, um das Video zu einem der sehenswertesten Teile des Rundgangs zu machen. Im Beitrag der israelischen Videokünstlerin Keren Cytter nimmt die Fiktion erschreckend realistische Züge an: Bei Buñuel erschoss ein Mann seinen Sohn, ein Ereignis, an dem sich die nebenan tagende feine Abendgesellschaft nicht störte. Cytter verlegt das Ganze in eine texanische Bar. Statt des Vaters erschießt der Sohn seine Mutter, der Vater einen Gast und ein anderer Gast seine Freundin. Es ist ein abstraktes, absurdes Massaker, in dem Brutalität und Mord so normal erscheinen, wie an der Theke ein Bier zu heben.
Zum Glück kann man sich jetzt in Julian Rosefeldts vollkommen empathiefreie, schwarz-weiße Dreißiger-Jahre-Ästhetik retten, in der am Ende aber auch alles unmoralisch und verquer verläuft, nur dass es uns dann nicht mehr stört. Die sittenfreie, allem Anschein nach postapokalyptische Stadt aus Nackten, Soldaten und Burlesk-Tänzern wirkt in dem Kaleidoskop aus Mord, Diebstahl und Strafe wie die schönste aller möglichen Welten. Und so stolpert man am Ende auch nur noch kurz in John Bocks Filmkasten hinein, der beim Besucher mit seiner ganzen Widerlichkeit wohl am ehesten vergleichbare Gefühle hervorruft, wie Buñuel es 1930 mit „L’Âge d’Or“ tat.
Während ein grausiges Männlein, im Zweifel eine Anspielung auf den Marquis de Sade, sich an den Pupsgerüchen eines nackten Models erfreut, bevor ein anderer Schokoladenkuchen aus ihrer Poritze schleckt, wird dem Zuschauer immer schlechter und der Ekel immer größer. So ist der Schock am Ende doch noch gelungen. Allerdings muss sich weder Bock noch sonst einer der teilnehmenden Künstler jetzt in sein Landhaus verkriechen.
■ Bis 5. Oktober, Mathildenhöhe, Darmstadt, Katalog (Hatje Cantz) 24,90 Euro