Das gestohlene Kind

HIPPEN EMPFIEHLT In „Das Lied in mir“, dem Filmdebüt von Florian Cossen, wird die Militärdiktatur in Argentinien zum Hintergrund eines deutschen Familiendramas

Cossen wollte eine universelle Geschichte erzählen und Argentiniens Geschichte bot dafür einen idealen Rahmen

VON WILFRIED HIPPEN

Was sind unsere ersten Erinnerungen? Oft werden sie durch einen Geruch, einen Geschmack oder einen Gegenstand geweckt, den wir als kleine Kinder gekannt haben. Oder einen Klang – ein Kinderlied etwa, mit dem wir einst in den Schlaf gesungen wurden. Genau diese Erfahrung macht die etwa 30-jährige Maria im Transitraum des Flughafens von Buenos Aires, wo sie auf ihren Anschlussflug nach Chile wartet. Eine Mutter beruhigt ihr Kind mit einem spanischen Schlaflied und Maria summt es unwillkürlich mit. Als Deutsche mit deutschen Eltern dürfte sie diese Melodie gar nicht kennen, und doch spürt sie, dass sie eine dieser tiefen, frühen Erinnerungen auslöst.

Mit dieser existentiellen Verunsicherung seiner Protagonistin beginnt Florian Cossen seinen Film, und weil seine Anfangszene dramaturgisch solch einen starken Schub erzeugt, kann er mit einer gelassenen Ruhe weitererzählen und sich all die melodramatischen Tricks schenken, zu der solch eine Geschichte ja geradezu einlädt. So versucht ihr Vater etwa nicht den ganzen zweiten Akt lang, Maria zu beruhigen und zu belügen. Sobald sie ihm ihr seltsames Erlebnis am Telefon schildert, reist er ihr aus Deutschland hinterher und sagt ihr dann auch gleich die Wahrheit: dass sie das Kind eines argentinischen Paares ist, das während der Militärdiktatur verschleppt und ermordet wurde. Maria beginnt in Buenos Aires nach ihrer wahren Familie zu suchen, und spätestens in diesen Szenen findet Cossen seinen Ton, denn er filmt sie in einem quasi dokumentarischen, sehr authentisch und atmosphärisch wirkenden Stil, der expressiv einfängt, wie chaotisch die Metropole auf die junge Deutsche wirken muss.

Zum Glück ist der junge Filmemacher bei seinem Abschlussfilm der Filmakademie Baden-Württemberg noch nicht von Produzenten und (noch schlimmer!) Redakteuren abhängig, denn diese hätten mit Blick auf das angeblich so bequeme Publikum alle Akteure Deutsch sprechen lassen. So aber redet jeder in seiner Sprache und muss radebrechen, um sich mit den Fremden zu verständigen. Cossen verstärkt diese kommunikative Unschärfe noch dadurch, dass er einige Gespräche in Spanisch nicht einmal untertitelt, und schon dadurch laufen wir in den Schuhen von Maria durch diese Stadt und diesen Film. Jessica Schwarz spielt sie mit einer faszinierenden Mischung aus Verletzlichkeit und Wut über den Verrat ihres deutschen Vaters.

Und Michael Gwisdek füllt diese eigentlich undankbare Rolle so mit Leidenschaft und Schmerz, dass es nicht leicht fällt, ihn zu verurteilen. Genau diesen Konflikt durchlebt ja auch Maria. Erst recht, nachdem sie tatsächlich Verwandte ihrer wahren Eltern aufspürt und von diesen erfährt, dass ihr Vater sich noch viel grundsätzlicher schuldig gemacht hat.

Florian Cossen spart die politischen Hintergründe weitgehend aus. Bei der Vorstellung seines Films im Bremer Cinema am letzten Samstag erklärte er dies damit, dass er eine universelle Geschichte erzählen wollte, und Argentiniens Geschichte dafür einen idealen Rahmen geboten hat. Diesen füllt er realistisch und mit einem genauen Auge für Details aus. So wirken etwa die argentinischen Darsteller in den Familienszenen mit ihrem lateinamerikanischen Temperament genauso glaubwürdig wie die eher europäisch reservierten Sequenzen zwischen Schwarz und Gwisdek. Da gibt es keinen Bruch, der Film wirkt wie aus einem Guss. Nach Philip Koch, dessen „Picco“ in der letzten Woche in die Kinos kam, ist Florian Cossen schon der zweite vielversprechenden Debütant des deutschen Kinos.