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Archiv-Artikel

Start-ups geh’n auf Kaperfahrt

taz-Serie „Boom 2.0“ (Teil 2): Interaktive Anwendungen florieren im Netz. Mit dem „Web 2.0“ machen inzwischen auch Jungfirmen gutes Geld. Vergessen ist der erste Dotcom-Crash aber nicht

VON ULRICH SCHULTE

Ginge es nach Dirk Weyel, würden sich alle BerlinerInnen ein eigenes Piratenschiff zulegen. Sie würden ihre Fregatten nach Feierabend mit Waffen und Waren beladen und die Segel hissen, um maritim ambitionierten Mitbürgern den fahrbaren Untersatz unterm Hintern wegzuballern. Und in naher Zukunft will Weyel nicht nur die Berliner mit Piratenschiffen versorgen, sondern auch die Deutschen, die Europäer und die Amerikaner, die Asiaten machen sowieso mit.

Dirk Weyel ist Marketingvorstand des Onlinespiele-Verlags Frogster Interactive Pictures, und sein Traum illustriert einen Trend: Berlins Internetbranche ist wieder im Kommen. Nach dem Crash der New Economy 2001 wird in den Büros in Mitte und Prenzlauer Berg wieder Geld verdient. Das „neue“ Mitmach-Internet der Blogger, Podcaster, Gamer und Wikipedianer, für das sich der Begriff „Web 2.0“ eingebürgert hat, bietet eben auch neue Vermarktungschancen.

Weyel will einen Teil der Beute, indem er den Markt der „Massive Multiplayer Online Games“ entert – Onlinespiele, bei denen tausende Nutzer virtuell interagieren. „Dieser Markt wird sich stark ausweiten“, sagt er. Bis zum Frühjahr will Frogster das Piratenspiel herausbringen, die Entscheidung, auf Online zu setzen, hat der Verlag schon vor einem Jahr getroffen. „Offline interessiert in Asien schon niemanden mehr“, sagt Weyel.

Frogster ist nur ein Beispiel für viele Erfolgsgeschichten in der Hauptstadt. Allein in diesem Jahr gingen mit dem Handymarketing-Spezialisten Yoc und der Softwareschmiede Magix zwei weitere IT-Unternehmen an die Börse. Die Firma Gate 5, die unter anderem Navigationssysteme fürs Handy entwickelt, wurde vom Branchenriesen Nokia übernommen. „Man kann durchaus von einem Boom sprechen, sowohl bei Neugründungen als auch beim Wachstum bestehender IT-Firmen“, sagt Ingrid Walther, die in der Senatsverwaltung für Wirtschaft das Referat Medien, Informations- und Kommunikationswirtschaft leitet. Auch der IT-Experte der Investitionsbank Berlin (IBB), Torsten Mehlhorn, bestätigt ein „stetiges Wachstum“ der Branche: Bundesweit wachse ihr Umsatz um 5 bis 8 Prozent im Jahr. „Berlin liegt voll im Trend. Und wir haben voraussichtlich noch fünf Jahre Wachstum vor uns.“

IT-Paradies Berlin

Berlin ist aus mehreren Gründen ein paradiesisches Eiland für die IT-Szene: Die Lebenshaltungskosten sind so niedrig, dass Start-up-Gründer gut leben können. Unter der Stadt liegen gut 60.000 Kilometer moderne Glasfaserkabel, eine Infrastruktur, die bundesweit ihresgleichen sucht. In der Studierendenszene finden Firmen ambitionierte und kundige Mitarbeiter.

Umso eklatanter ist ein Widerspruch, der schnell auffällt: Alle Behörden sind des Lobes voll, wenn es um den IT-Boom geht. Aber was genau da passiert, weiß keiner, denn Erhebungen fehlen. „Welche Firma sich wie positioniert, lässt sich kaum kategorisieren“, so IBB-Fachmann Mehlhorn. In der Senatsverwaltung gibt es keine Statistik über Neu- und Umgründungen, das Statistische Landesamt behilft sich mit dem sperrigen Begriff „Datenverarbeitung und Datenbanken“, worunter auch ein Reparaturdienst für Kopierer fällt. Fast 2.000 solcher Firmen haben ihren Sitz in Berlin. Sie erwirtschaften einen Umsatz von fast 1,9 Milliarden Euro und beschäftigen mehr als 16.000 Menschen.

Was in keine offizielle Schublade passt, tut sich auch schwer mit konventionellen Kapitalgebern. Zwar bieten Institutionen wie die IBB Gründungshilfen an, ebenso Privatbanken (s. rechte Spalte) – doch private Venture-Capital-Firmen sind oft flexibler. „Wir haben vor der Gründung bei einigen Banken vorgesprochen, um Gründerkredite zu bekommen – das war ein völliges Fiasko“, sagt Kai Bolik, Geschäftsführer der Berliner Spieleseite GameDuell, in einem Interview mit der Start-up-Seite „Gründerszene“. Schließlich stieg die Venture-Capital-Tochter der Verlage Holtzbrinck und Burda ein. „Traditionelle Banken oder der Senat verstehen doch gar nicht, was hier entsteht“, sagt auch der Jungunternehmer Christian Boris Schmidt (s. Bericht unten).

Vielleicht ist das Ganze zu organisch für Statistiken. Berlins IT-Szene gleicht einem Zellhaufen, der sich ständig neu spaltet, mal hier, mal dort ausstülpt. Und für jede Zelle, die stirbt, bilden sich zwei neue. „Die Projekte organisieren sich blitzschnell um, das macht den Charme der Szene aus“, sagt Walther. Auf Plattformen wie Berlinstartup.de oder Berlin 2.0 tauschen sich Gründer aus. „Man sieht sich, man kennt sich, man redet miteinander“, sagt Schmidt über die Start-up-Familie. Er veranstaltet regelmäßig „Online Marketing Lounges“, Treffen in einer Bar, auf denen sich Internetunternehmer austauschen. Es kommen knapp hundert Leute. Und wenn einem das Geld ausgeht, darf er auch mal in einer anderen Bürogemeinschaft unterschlüpfen.

Döner vorm Flatscreen

Wie Chamäleons passen sich Firmen dem Markt an, wechseln Namen, Personal und Konzept, oder dieselben Leute machen etwas Neues. Frogster, das im Februar erfolgreich an die Börse ging, entstand durch ein „Management-Buy-out“: Das Management der Vorgängerfirma kaufte diese auf und richtete sie unter anderem Namen neu aus.

Jetzt sitzen 30 Mitarbeiter in einem Altbaubüro in Ku’damm-Nähe vor den Flatscreens, essen nebenbei – da hat sich seit der New Economy nichts geändert – Döner und Pizza, und für Marketingchef Weyel ist das Web 2.0 schon Vergangenheit. „Die virtuellen Welten werden noch einen großen Sprung machen, etwa in Richtung Dreidimensionalität. Wir müssen bald vom Web 3.0 sprechen.“ Und der Kunde entscheidet mit: Frogster hat sich an dem Fanportal „Onlinewelten“ beteiligt, alle Spiele werden erst ausgesuchten Fans vorgeführt. Weyel betont: „Wir brauchen diese Nähe zur Community.“

Bei allem Optimismus, der das Internetcomeback begleitet, ist das Trauma des Crashs nicht vergessen. „Ich sehe die Gefahr einer neuen Internetblase“, sagt Ingrid Walther, die Expertin der Wirtschaftsverwaltung. Die Erwartungen, die mit Plattformen, Blogs und Portalen verknüpft würden, seien zu hoch. GameDuell-Gründer Bolik sagt: „Immer mehr Leute investieren in alle Möglichkeiten – und hoffen, die zu erwischen, die überleben.“ Allerdings wirtschafteten viele solide. Wenn es eine „Bubble“ gebe, sagt Bolik, werde sie nicht so explodieren wie früher. Anders gesagt: Das Schiff wird langsamer segeln, aber nicht untergehen.